Philosophenportal
»Versuche«.
Es handelt sich dabei um eine in der Literaturgeschichte neue Textform, die auf jeweils ein paar Seiten einen Gedanken oder
ein Thema »versuchsweise« erörtert, ohne sich an irgendein Schema zu halten. Die
Essais
sind keine Abhandlungen eines Fachphilosophen, sondern ausformulierte Notizen eines Weltweisen, der uns unmittelbar an seiner
Auseinandersetzung mit der Welt teilnehmen lässt. Montaigne lesen heißt, den Prozess des Denkens beim Lesen selbst mitzuverfolgen,
Denken also »live« zu erleben.
Montaigne hat den modernen Essay sozusagen erfunden: Er ist eine Form, die zwischen Argumentation und Erzählung, zwischen
Philosophie und Literatur hin und her pendelt. Genau deswegen hat sie auch seit jeher mehr Leser außerhalb als innerhalb der
Fachphilosophie gefunden.
|52| Und doch gelangt man auf Montaignes verschlungenen Wegen mitten in die Fragen der Philosophie. So ist auch der Essay »Von
den Hinkenden« voller brisanter philosophischer Thesen: die menschliche Unfähigkeit, die Dinge so zu erkennen, wie sie sind,
die Neigung und Fähigkeit des Menschen, die Welt mit Hilfe von Fiktionen zu deuten, und schließlich die Unstetigkeit eines
Wesens, das nicht mehr in der Sicherheit seiner Instinkte ruht. Alle diese Erkenntnisse haben später in der Philosophiegeschichte
Karriere gemacht und dicke Folianten gefüllt. Montaigne präsentiert sie en passant, also im Vorbeigehen, mehr hinweisend als
behauptend. Montaigne ist ein Philosoph der leichten Hand, ein großer Anreger. Seine
Essais
bilden eine unendliche Fundgrube philosophischer Denkanstöße.
Aus der unsystematischen Art seines Philosophierens und aus den Bescheidenheitserklärungen, die Montaigne immer wieder abgibt,
sollte man allerdings nicht schließen, dass die
Essais
für ihren Autor nur eine zweitrangige Bedeutung gehabt hätten. Im Gegenteil. Montaigne hat sie als die wichtigste Frucht seines
Lebens angesehen, als das Ergebnis eines jahrzehntelangen Prozesses, mit sich und der Welt ins Reine zu kommen. Als die Erstausgabe
der
Essais
1580 erschienen war, überreichte er das Werk voller Stolz dem französischen König Heinrich III. in Paris und, im Rahmen einer
ausgedehnten Reise, dem damaligen Papst Gregor XIII. in Rom.
Montaigne war zu diesem Zeitpunkt siebenundvierzig Jahre alt, ein französischer Aristokrat, der sich von öffentlichen Geschäften
weitgehend zurückgezogen hatte und, für seinen Stand ungewöhnlich, seine Zeit der Lektüre und dem Schreiben widmete. Ein Berufsphilosoph
ist er nie gewesen. Selbst die Tätigkeit eines philosophischen Schriftstellers hat ihm ursprünglich nicht vorgeschwebt. Es
waren vielmehr die Repräsentation und das öffentliche Engagement, auf die er durch eine standesgemäße Ausbildung vorbereitet
werden sollte. Dennoch erwarb er sich an Schule und Universität wichtige Grundlagen für sein späteres Schreiben.
Das geistige Leben im 16. Jahrhundert wurde in Westeuropa von den Humanisten beherrscht, einer Bildungsbewegung, die die Schriften der antiken Klassiker
wieder für ein breites Publikum zugänglich |53| machten. Humanistische Bildungsprogramme hatten die von der Kirche geprägten Lehrinhalte abgelöst. 1533 geboren, erhielt Montaigne
eine der besten humanistischen Ausbildungen, die in jener Zeit in Frankreich möglich war.
Als Kind wurde er von einem deutschen Hauslehrer unterrichtet, der mit ihm nur Latein sprach. Er besuchte die Eliteschule
Collège de Guyenne, an der einige der berühmtesten Humanisten der damaligen Zeit lehrten, und er begann bereits mit dreizehn
Jahren ein Studium der Rechtswissenschaften in Bordeaux und Toulouse, das er 1554 abschloss. Montaigne erwarb durch diese
Erziehung eine große Vertrautheit mit antiken Autoren, aus denen er in seinen
Essais
immer wieder zitiert. Die antike Literatur wird ihm zu einer unerschöpflichen Fundgrube, aus der er sich immer wieder ganz
unsystematisch und eigenwillig bedient.
Eine seiner ersten öffentlichen Funktionen bekleidete Montaigne ab 1557 als Ratsherr von Bordeaux, ein Amt, das innezuhaben
in der Familientradition lag. Sein Vater hatte der Stadt jahrelang als Bürgermeister gedient. Hier lernte Montaigne den zwei
Jahre älteren Étienne de La Boëtie kennen, einen Kollegen, der zu seinem engsten Freund und wichtigsten geistigen Anreger
werden sollte. La Boëtie hatte bereits mit achtzehn Jahren eine Aufsehen erregende Abhandlung, »Über die freiwillige
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