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Individuellen gegenüber dem Allgemeinen ist eines der Charakteristiken
der Renaissance. Sie war die Zeit, in der die europäischen Seeleute fremde Kontinente und Völker entdeckten und die Künstler
begannen, ihren Blick auf realistische Details zu richten. Nicht zufällig haben sich in der Malerei dieser Zeit die räumliche
Perspektive und die Porträtmalerei durchgesetzt. Diesen »realistischen« Blick hat auch Montaigne. Für ihn ist die charakteristische
Einzelheit wichtiger als eine mögliche theoretische Bedeutung. Montaigne ist ein unermüdlicher Jäger und Sammler von Erfahrungsmaterial,
sei es auch scheinbar noch so unbedeutend. Deshalb zeichnen sich seine
Essais
durch eine Liebe zum Besonderen, durch eine Fülle von Details aus, die nicht zusammenhängend oder stimmig sein müssen, die
aber die Augen für die Vielfältigkeit der Welt öffnen sollen.
Durch diese Art der empirischen Selbstbeobachtung und Selbsterforschung wird Montaigne zu einem der Väter der modernen Anthropologie, |58| der Lehre vom Menschen. Die scholastische Philosophie des Mittelalters sah den Menschen über die Natur erhoben und durch die
vom Körper getrennte, unsterbliche Seele mit Gott verbunden. Eine solche Trennung von Mensch und Natur und von Körper und
Geist widerspricht nach Montaigne aber der Erfahrung. Der Mensch bleibt für ihn Teil der Natur, den gleichen Bedürfnissen
und Gefährdungen ausgesetzt wie andere Kreaturen. An sich selbst beobachtet er, wie eng geistige und körperliche Zustände
miteinander verwoben sind. Deshalb widmet er sich auch ausführlich einem Thema, das in der mittelalterlichen Philosophie tabu
war: dem Körper und seinen Funktionen.
Wegen seiner Zugehörigkeit zur materiellen und sinnlichen Welt galt der Körper in der scholastischen Philosophie des Mittelalters
als Hort der Sünde. Selbst Ärzte gerieten unter den Verdacht, mit dem Teufel zu paktieren. Montaigne dagegen redet oft und
ausführlich über seine Krankheiten, über Geschlechtsverkehr, über Schlaf, über Essen und Trinken, über seinen kahlen Schädel
und über seinen dichten Schnurrbart. Er findet den Zugang zum Menschen über den Körper, nicht über den Geist.
Von Montaigne hört man deshalb auch keinen Lobpreis des Menschen als Krone der Schöpfung. In seinen Augen ist der Mensch vielmehr
schwach, wankelmütig und leichtgläubig. Er ist kein Vernunftwesen, sondern ein Wesen voller Widersprüche, das auf schwankendem
Boden steht. Gerade die Vernunft, die den Menschen angeblich aus dem Reich der Natur heraushebt, erscheint ihm als besonders
unzuverlässig. Jeder scheinbar begründeten Meinung lässt sich eine Gegenmeinung, jedem angeblichen Beweis ein Gegenbeweis
entgegenstellen.
Montaigne steht hier in der Tradition der spätantiken Schule der Skeptiker, die von der Unmöglichkeit einer sicheren Erkenntnis
über die Dinge überzeugt war. Auch die von Sokrates überlieferte Aussage »Ich weiß, dass ich nichts weiß« dient ihm als Bestätigung
der Erkenntnis, dass sich die Widersprüche der Welt nicht durch Vernunft auflösen lassen. In diesem Punkt befinden sich Philosophie
und Lebenserfahrung für Montaigne im Einklang: »Es ist meine eigne Erfahrung« |59| , so stellt er fest, »die mich die menschliche Unwissenheit so groß herausstellen lässt: Dies wird uns meiner Ansicht nach
von der Schule der Welt als das Unbezweifelbare schlechthin gelehrt.«
Dieses von Skepsis und Bescheidenheit geprägte Menschenbild führt auch zu einem veränderten Blick auf die menschliche Kultur
und ihre Werte. Montaigne sieht die eigene Kultur nicht als Vorbild für andere an. Er ist einer der ersten Philosophen, die
den Eurozentrismus, das heißt die These von der Überlegenheit der europäischen Kultur, in Frage stellen. In seinen Augen ist
es lediglich mangelnde Vertrautheit, die uns dazu verleitet, andere Kulturen als »barbarisch« zu bezeichnen. Deshalb verfolgte
Montaigne auch aufmerksam alle ihm zugänglichen Nachrichten, die Reisende von fremden Ländern und Kontinenten mitbrachten.
So waren ihm auf einer seiner Reisen nach Paris brasilianische Indianer vorgeführt worden. Auf diese Informationen stützt
er sich in seinem Essay »Über die Menschenfresser«. Die Kultur der so genannten »Wilden« ist nämlich geeignet, auch unsere
eigene in einem neuen Licht zu betrachten. Was ist eigentlich humaner, fragt Montaigne provozierend, wenn ich meinen Gegner
schnell und schmerzlos
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