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musste er sich wegen der zu großen Gefahr sogar ausquartieren.
Montaigne hat in seinen
Essais
aus dem religiösen Fanatismus seiner Zeit Schlussfolgerungen gezogen. Was die grundlegenden metaphysischen und theologischen
Fragen anging, blieb er immer ein Skeptiker. Er bezweifelte, dass es möglich ist, persönliche Glaubensüberzeugungen zu »beweisen«.
Vor allem hielt er es für gefährlich, wenn aus diesem Wahrheitsanspruch politische Forderungen und vor allem die Rechtfertigung
einer Gewaltanwendung gegen andere abgeleitet wird. In seinem Essay »Über die Gewohnheit und dass man ein überkommenes Gesetz
nicht leichtfertig ändern sollte« hält er es für eine Anmaßung, »wenn man seine persönlichen Überzeugungen derart wichtig
nimmt, dass man zu ihrer Durchsetzung nicht davor zurückschreckt, den öffentlichen Frieden zu brechen und all den Übeln und
der entsetzlichen Sittenverderbnis Tür und |56| Tor zu öffnen, die bei Dingen von solchem Gewicht Bürgerkriege und politische Umwälzungen zwangsläufig mit sich bringen«.
So blieb Montaigne Katholik nicht aus theologischer Überzeugung, sondern weil das Festhalten an der traditionellen Religion
den gesellschaftlichen Frieden am ehesten garantiert. Als ein undogmatischer Konservativer wollte er kirchliche Missstände
nicht durch eine Abkehr vom alten Glauben, sondern durch innere Reformen beseitigen. Als Philosoph war er, zweihundert Jahre
vor der Aufklärung, ein Verfechter der Toleranz.
In unmittelbarer zeitlicher Nähe zur Bartholomäusnacht, von 1572 bis 1573, schrieb Montaigne den ersten Band der
Essais
nieder. Der zweite Band entstand Ende der siebziger Jahre, von 1577 an: in dem Jahr, in dem ihn der König zum Kammerherrn
ernannte, aber auch in dem Jahr, in dem er zum ersten Mal von seiner – in den
Essais
häufig erwähnten – schmerzhaften Nierenkrankheit befallen wurde. Erst Ende der achtziger Jahre hatte er schließlich den dritten
Band fertig gestellt, wobei er seine früheren Essays einer erneuten Überarbeitung unterzogen hatte.
Haben die
Essais
ein Thema? Gibt es so etwas wie einen roten Faden, der sich durch alle drei Bände hindurchzieht? Montaigne hat darauf überraschenderweise
eine eindeutig positive Antwort gegeben: Thema seines Buches sei er selbst, alles, was er hier schreibe, sei Ausdruck seines
Ichs. Er habe das Buch nicht für die Öffentlichkeit geschrieben, sondern ausschließlich, um über sich selbst Rechenschaft
abzulegen.
Diese Selbstaussage Montaignes ist geeignet, bei heutigen Lesern Verwirrung und Missverständnisse hervorzurufen. Missverständisse
deshalb, weil Montaigne keineswegs die Absicht hatte, eine Autobiografie oder ein Bekenntnisbuch zu schreiben. Wer Auskunft
über Privates oder gar intime Enthüllungen erwartet, wie sie in der europäischen Literatur ab dem 18. Jahrhundert üblich wurden, sieht sich getäuscht. Montaigne interessiert sich vielmehr, wie man sagt, für »Gott und die Welt«,
er beschreibt Bräuche, kommentiert Bücher und berichtet von charakteristischen Erlebnissen. Die umfangreichste Abhandlung
der
Essais
, die »Apologie für Raymond Sebond«, beschäftigt |57| sich zum Beispiel mit einer Schrift des katalanischen Theologen Raimundus Sebundus, die Montaigne selbst 1569 übersetzt hatte
und in der versucht wird, die Glaubenswahrheiten aus der Vernunft abzuleiten. Ein auf den ersten Blick sehr theoretisches
Thema, in dem das Ich keinen Platz zu haben scheint.
Wenn Montaigne sein Ich in den Mittelpunkt stellt, dann meint er damit, dass er nicht von vorgefertigten theoretischen Konzepten,
sondern von Erfahrungen ausgeht, und zwar von Erfahrungen, die er selbst gemacht hat. Montaigne ist neugierig auf alles, was
in der Welt vorgeht. Aber er nimmt diese Eindrücke, die ihm zugänglichen Informationen und die aus Büchern entnommenen Aussagen,
nicht als selbstverständlich hin. Er schickt sie durch den Filter seines Ichs. Auch der Essay über die Vernunfttheologie des
Raimundus Sebundus ist kein akademischer Kommentar, wohl aber eine im Licht der eigenen Erfahrung vorgenommene kritische Prüfung
menschlicher Vernunftansprüche. Für Montaigne, der bekennt, er habe »der Philosophie nie etwas bereitwillig geglaubt«, gibt
es keine »Vernunftwahrheiten«, die sich von selbst verstehen. Das Ich ist für ihn der Schild, mit dem er sich gegen abstrakte
Wahrheiten schützt.
Die Hinwendung zur Welt und die gleichzeitige Betonung des
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