Philosophenportal
der sinnlichen, intuitiven Fähigkeiten ist es auch, die die verloren gegangene Instinktorientierung und damit den
Kontakt zur »Mutter Natur«, wie Montaigne sie nennt, wieder herstellen kann. Montaigne greift hier Ideen auf, die auch in
den östlichen Meditationslehren des Buddhismus, Hinduismus oder Taoismus eine Rolle spielen: die Fähigkeit loszulassen, eigenes
Streben aufzugeben und auf die Dinge »hinzuhören«. Bei Montaigne tritt der Mensch seiner Umwelt nicht als homo faber, als
Macher, entgegen, sondern als jemand, der sich öffnet, aufnimmt und lernt. Im letzten Essay des dritten Bandes, »Über die
Erfahrung«, beschließt Montaigne sein Buch nicht zufällig mit einem Gebet an den heidnischen Gott Apoll, den Gott der »fröhlichen
Weisheit«. In der Welt Montaignes stehen die Götter nicht außerhalb der Natur, sondern sind ein Teil von ihr.
Montaignes
Essais
waren ein »work in progress«, ein Werk, das bis zu seinem Tod 1592 immer neue Zusätze und Veränderungen erfahren |62| hat. Mit der Fertigstellung des zweiten Bandes 1580 konnte die Erstausgabe der
Essais
erscheinen. Sie bescherte ihm nicht nur Leser, sondern auch erste Anhänger, darunter die 1565 geborene Marie de Gourney, eine
philosophisch interessierte Adelige aus der Picardie, mit der er in einen brieflichen Austausch trat und die er später sogar
als seine »Adoptivtochter« bezeichnete. Als er 1588, aus Anlass des Erscheinens der ersten Gesamtausgabe, die nun auch den
dritten Band enthielt, nach Paris reiste, stattete er ihr einen persönlichen Besuch ab. Sie war eine der ganz wenigen, mit
denen Montaigne nach dem Tod Etienne de La Boëties geistigen Austausch pflegte. Nach seinem Tod wurde sie Herausgeberin seiner
Werke und besorgte 1595 die erste posthume Ausgabe.
Die Tatsache, dass Montaigne eines der ersten Exemplare dem Papst persönlich überreicht hatte, konnte nicht verhindern, dass
die katholische Kirche das Buch 1676 auf den Index setzte. Die kirchlichen Zensoren hatten immerhin einige Jahrzehnte gebraucht,
bis sie erkannten, dass der bekennende Katholik Montaigne in Wahrheit ein vorchristlicher Naturanbeter war.
Auch die Universitätsphilosophen haben Montaigne immer wieder links liegen lassen. Doch seine Spuren sind überall in der Philosophie-
und Literaturgeschichte zu finden. Seine essayistische Form des Philosophierens, gepaart mit einer skeptischen Sicht des Menschen
und einer pragmatischen Weisheitslehre, hat die neuzeitliche europäische Moralistik begründet, die vor allem in Frankreich
in La Rochefoucauld, La Bruyère und Chamfort ihre Fortsetzer fand. Das von Montaigne begonnene Programm der Selbsterforschung
des Ichs wurde von René Descartes aufgegriffen. Pascal ist ihm mit seiner Diagnose des schwachen und unsteten Menschen gefolgt.
Jean-Jacques Rousseaus Wahlspruch »Zurück zur Natur« kann sich ebenso auf Montaigne berufen wie die Toleranzforderungen der
Aufklärer, die der europäischen Kultur ihren Spiegel vorhielten. Auch Friedrich Nietzsche, der mit seiner »Umwertung der Werte«
den Leib gegenüber dem Geist aufwertete, steht in den Fußstapfen Montaignes. Und Montaigne war es auch, der mehrere hundert
Jahre vor der Existenzphilosophie die Forderung nach einer Auseinandersetzung |63| mit der eigenen Sterblichkeit zur Voraussetzung des »eigentlichen« Lebens erhob.
Vor allem aber haben Montaignes
Essais
der Philosophie jene Glaubwürdigkeit, Konkretheit und Leichtigkeit verliehen, mit denen sie auch diejenigen Leser erreichte,
die sich die Philosophie nicht als Studienobjekt, sondern als Lebensbegleiter wünschten.
Ausgabe:
MICHEL de MONTAIGNE: Essais. Übersetzt von H. Stilett. Frankfurt/ Main: Eichborn 1998 bzw. München: Goldmann 2002.
|64| Reise ins Innere der Vernunft
RENÉ DESCARTES: Abhandlung über die Methode (1637)
Die großen Entdecker in der Geschichte der Menschheit wussten selten, wie groß das Land ist, das sie gerade betreten hatten,
oder welche Bedeutung die von ihnen gemachte Erfindung erlangen sollte. Oft hatten sie ihre Expedition oder ihr Projekt unter
ganz anderen Vorzeichen begonnen. Als Christoph Kolumbus Ende des 15. Jahrhunderts seinen Fuß auf amerikanischen Boden setzte, glaubte er noch, den lang gesuchten Seeweg nach Indien gefunden zu
haben. Welch riesigen Kontinent er entdeckt hatte und welche Rolle dieser einst in der Geschichte spielen sollte, ahnte er
nicht. Der sächsische Alchemist Johann
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