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töte und anschließend verspeise oder wenn ich ihn langsam und grausam foltere, so wie dies gerade zu
Zeiten der Religionskriege in Europa üblich war? Bei genauerem Hinsehen stellen wir nämlich fest, wie viel wir von fremden
Kulturen lernen können. Die Völker, die wir »barbarisch« nennen, sind der westlichen Kultur in einem entscheidenden Punkt
voraus: Sie sind näher an der Natur, ihre Wünsche richten sich nach den natürlichen Bedürfnissen. Dadurch entgehen sie nicht
nur den Lastern, die aus Luxus und Überfluss herrühren, sondern auch dem, was Montaigne als den Grundfehler der eigenen Kultur
ansieht: ihre Maßlosigkeit, ihr Streben nach immer mehr, ihr Hang zur Perfektion, der zu einer zerstörerischen Energie wird.
Statt der Überheblichkeit gegenüber anderen Kulturen empfiehlt Montaigne Toleranz und Lernbereitschaft.
Aus dieser kritischen Betrachtung der menschlichen Natur und der menschlichen Zivilisation leitet Montaigne seine Weisheitslehre,
seine Ansichten von einem glücklichen und gelungenen Leben, ab. |60| Er will jedoch keine Lehre im herkömmlichen Sinn, kein Dogma und kein System, sondern eine Lebenshaltung vermitteln. Wie bei
den spätantiken Philosophen richtet sich seine Weisheit auf das, was erreichbar ist, auf den irdischen Lebensgenuss und nicht
auf eine jenseitige Erlösung. Obwohl er nominell ein katholischer Christ war, spielt die Ausrichtung auf ein Jenseits in seiner
Lebensphilosophie kaum eine Rolle. Montaigne ist ein ganz am Diesseits orientierter Denker, der die Forderung der griechischen
Philosophie: »Lebe in Einklang mit der Natur und in Übereinstimmung mit dir selbst« wieder aufgreift. Der Mensch muss seine
Selbstüberschätzung ablegen und wieder in eine enge Verbindung zu seiner kreatürlichen Umwelt treten.
Dazu gehört zuerst, dass er sich auch in seiner Vergänglichkeit und Sterblichkeit annimmt. Aus dem Dialog
Phaidon
des griechischen Philosophen Platon ist die Aussage des Sokrates überliefert: »Leben heißt sterben lernen.« Montaigne macht
sie zum Titel eines seiner berühmtesten Essays. Gemeint ist damit aber keine romantische Todessehnsucht oder eine morbide,
lebensfeindliche Haltung. Wie immer plädiert er für einen lebensnahen Realismus. Er, der jeden Tag Menschen, die durch Krankheit,
Unfälle oder Krieg ums Leben kamen, vor Augen hatte, glaubte, dass wir nur durch den ständigen Umgang mit dem Tod ihn seiner
Unheimlichkeit berauben und uns von irrationalen Ängsten freimachen. Wer jedoch den Tod aus seinem Leben verdrängt, ist auch
nicht in der Lage, den Wert des Lebens zu würdigen.
Montaigne propagiert ein entspanntes Leben, das auf große Projekte verzichtet und Freude an den kleinen Dingen, dem Erreichbaren
findet. Es ist kein abenteuerliches, die Grenzen austestendes Leben. Im Gegenteil: Montaigne befürwortet eine Existenz, die
vielen als geradezu spießig erscheinen mag. So macht er sich zum Anwalt der Gewohnheit und der Behaglichkeit. Die Gewohnheit
bezeichnet er als Zaubertrank der Göttin Circe, die uns die Plagen vom Hals hält und uns mit der Natur versöhnt. Auch hier
bleibt er ein Konservativer: Jeder sollte so leben, wie es die Sitten und Gebräuche seiner Kultur und Region überliefern und
wie es seinem eigenen Lebensrhythmus |61| entspricht. Der Hast, dem Ehrgeiz, den großen Projekten setzt er das alte antike Lebensideal der Muße entgegen.
In der Annahme der eigenen, natürlichen Grenzen und im maßvollen, sinnlichen Lebensgenuss liegt das Glück, das dem Menschen
möglich ist. Montaigne ist ein Hedonist, also jemand, der in der »Lust« (griechisch »hedone«) dieses Glück verwirklicht sieht.
Auch wenn wir nach Tugend streben, so haben wir in Wahrheit die lustvolle Befriedigung im Blick, die uns ein tugendhaftes
Leben gewährt. Der Weg zum Glück führt bei Montaigne über die Sinne, nicht über die Rationalität. Es ist jedoch keine auf
die Spitze getriebene Sinnlichkeit. Jede Art von Ekstase oder Entrückung ist ihm fremd. Montaigne ist ein Genießer der kleinen,
alltäglichen und natürlichen Formen der Sinnlichkeit: Essen, Trinken, Sexualität. Er setzt sich hier von einer Tradition ab,
die seit Platon und Aristoteles die Philosophie beherrscht hatte: Die Selbstverwirklichung des Menschen besteht für ihn nicht
mehr in der geistigen Kontemplation als der Herrschaft der Vernunft über die Sinne, sondern in der bewussten Entfaltung der
sinnlichen Anlagen.
Die Pflege
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