Philosophenportal
klassischen Werken der Philosophie gibt es solche, die von ihrer Form her Brevieren ähneln und als solche auch
gelesen werden. Zu ihnen gehören die
Pensées
, die
Gedanken
des französischen Mathematikers und Philosophen Blaise Pascal. Es handelt sich hierbei nicht um eine Verkürzung oder Zusammenfassung
eines größeren Textes, sondern um eine lockere Sammlung von Aphorismen, Notizen und kleineren Abhandlungen, die erst nach
dem Tod des Autors aus einem Konvolut von Aufzeichnungen zusammengestellt wurden. Ein schwer überschaubares Gelände, ein Buch,
das nicht wie ein Traktat durchgearbeitet werden kann, sondern auf vielen Streifzügen erforscht werden muss. Unter den sorgfältig
ausstaffierten Systemkonzeptionen wirken die
Gedanken
bis heute wie ein ungebetener Gast, der in einem etwas befremdlichen Aufzug erscheint und durch sein ungebührliches Auftreten
die Etikette verletzt.
Die
Gedanken
sind Zeugnis einer geistigen Auseinandersetzung zwischen den Ansprüchen der Vernunft und den Forderungen des christlichen
Glaubens. Auf seinem Weg der Wahrheitssuche hat Pascal |80| sich in einer geradezu selbstquälerisch intensiven Weise mit den Argumenten der Philosophie und der Wissenschaft auseinander
gesetzt. Doch statt die Wahrheit über den Menschen und die Welt zu erfahren, wurden ihm die Ansprüche der Vernunft immer mehr
zum Problem. Am Ende ordnet er den intellektuellen Scharfsinn der religiösen Leidenschaft unter. »Der letzte Schritt der Vernunft«,
so sein Schluss, »ist die Erkenntnis, dass es eine Unendlichkeit von Dingen gibt, die die Vernunft übersteigen.«
Liebe zur Rationalität und Verzweiflung über ihre Grenzen – von diesem Zwiespalt sind die
Gedanken
geprägt. Sie sind das Testament eines Gottsuchers, eines Menschen, der unablässig nach dem letzten Prinzip unserer Wirklichkeit
geforscht und sich bei dieser Suche schließlich der christlichen Religion anvertraut hat. Sie sind aber gleichzeitig ein glänzendes
Beispiel philosophischer Rhetorik, beherrscht von der Absicht des Autors, die Rationalisten und Skeptiker auf den Weg des
Glaubens zu führen.
In der Zwiespältigkeit seines Werks spiegelt sich auch die Widersprüchlichkeit der Person des Autors. Blaise Pascal war ein
zwischen Vernunft und Leidenschaft zerrissener Mensch. 1623 in Clermont-Ferrand, im Herzen Frankreichs geboren, lebte er,
früh von Krankheit gezeichnet, bereits in jungen Jahren in dem Bewusstsein, nicht viel Zeit zu haben. Es war ein Leben, gezeichnet
von Krankheiten, Brüchen und Krisen, das früh in hellem Licht aufflackerte, aber auch sehr früh, im Alter von neununddreißig
Jahren, wieder erlosch. Pascal hat sich wie eine Schlange mehrmals in seinem Leben gehäutet und jedes Mal trat ein neuer Mensch
hervor: Wissenschaftler, Lebemann oder religiöser Asket. Und jede dieser Existenzen durchlebte er mit extremer Intensität.
Pascal wuchs in einer Familie auf, in der religiöse und wissenschaftliche Fragen eine große Rolle spielten. Sein Vater, ein
hoher Beamter der Steuerverwaltung, hatte engen Kontakt zur intellektuellen Elite des Landes. Die Erziehung seines Sohnes
nahm er selbst in die Hand: Klassische Sprachen und Mathematik spielten dabei eine Hauptrolle. Der junge Pascal erwarb sich
schnell den Ruf eines Wunderkindes und wissenschaftlichen Genies.
|81| Wie der zweite große französische Philosoph des 17. Jahrhunderts, René Descartes, fühlte sich Pascal von der Mathematik und ihrer Möglichkeit angezogen, rationale Ordnungsprinzipien
und Strukturen zu entwerfen. Mit zwölf Jahren erfand er einen großen Teil der Euklidischen Geometrie neu. Mit knapp zwanzig
Jahren konstruierte er eine Rechenmaschine, die seinem Vater bei seinen Steuerberechnungen helfen sollte. Aber auch die aufstrebenden
Naturwissenschaften faszinierten ihn sehr früh. Er führte zahlreiche physikalische Experimente durch, deren Ergebnisse er
der Öffentlichkeit mit großem Selbstbewusstsein vorstellte. Die Möglichkeiten rationaler Erkenntnis und Planung regten ihn
immer wieder zu neuen Projekten an. Noch im Jahr seines Todes erhielt er das Patent für den Entwurf eines Transportnetzes,
mit dem er die Personenbeförderung in Paris neu organisieren wollte.
Als ein wichtiger Schritt in seinem Denken erwies sich die 1651 erschienene Abhandlung
Über das Leere
. Aristoteles, der über viele Jahrhunderte einflussreichste Naturphilosoph, hatte behauptet, dass es in der Natur kein
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