Philosophenportal
|108| siebenundfünfzig Jahre alt. Zwar markiert die
Kritik der reinen Vernunft
erst den Beginn der großen Hauptwerke Kants, aber sie ist auch schon Ergebnis einer Lebensleistung, einer langen und geduldigen
Denkarbeit.
Für eine solche Arbeit war der Handwerkerssohn Immanuel Kant hervorragend geeignet. Er besaß eine ungeheure Arbeitsdisziplin,
war hartnäckig in der Verfolgung seiner Ziele und konzentrierte seine gesamte Lebensführung auf die geistige Forschungsarbeit.
Dazu gehörte auch, dass er zeitlebens einen Ortswechsel vermied. Die emotionale Verbindung mit seiner Heimat am östlichen
Rand des Königreichs Preußen, mit der Hafenstadt Königsberg und ihrer Umgebung, war so eng, dass er sich ein anderes Lebensumfeld
für seine Arbeit nicht vorstellen konnte. Angebote, zum Beispiel nach Halle oder Jena zu wechseln, hat er deshalb stets abgelehnt.
Kants Eltern waren Pietisten, streng gläubige Protestanten, für die Selbstbeherrschung, Fleiß und ein moralischer Lebenswandel
im Mittelpunkt der Erziehung standen. Auf dem pietistisch ausgerichteten Gymnasium Collegium Fridericianum, das der junge
Kant besuchte, waren Ferien unbekannt. Selbstdisziplin und Genügsamkeit forderten ihm aber auch die finanziellen Umstände
ab. Kants Vater, ein Sattlermeister mit fünf überlebenden Kindern, konnte die Erziehung seines begabtesten Sohnes kaum bezahlen.
Kant selbst gab Privatstunden, auch Kleider- und Geldspenden von Bekannten mussten helfen.
Bereits auf der Königsberger Universität, in die er mit sechzehn Jahren eintrat, fasste er den Entschluss, Universitätsdozent
zu werden. Die Universitäten des 18. Jahrhunderts vermittelten keine rein fachphilosophische Ausbildung und auch die Trennung der Fachbereiche war lange nicht
so ausgeprägt, wie dies heute üblich ist. Kant studierte neben Philosophie Mathematik sowie den gesamten Bereich der damaligen
Naturwissenschaften, darunter vor allem Physik, Astronomie und Geografie. Der Philosoph Kant hielt sein Leben lang den Blick
auf die Leistungen der Naturwissenschaften gerichtet und ließ sich von ihnen inspirieren. Auch in seinen Schriften und Vorlesungen
nahmen naturwissenschaftliche Themen einen breiten Raum ein.
|109| Bis er jedoch zum fest angestellten, ordentlichen Professor berufen wurde, war es noch ein langer Weg. Nach mehreren Jahren
des Studiums verdiente Kant seinen Lebensunterhalt neun Jahre lang als Hauslehrer bei adeligen Familien. 1755 erwarb er die
Lehrbefähigung für die Universität und damit den Titel »Privatdozent«, eine Stellung, die nicht bezahlt war, ihn aber dennoch
zum regelmäßigen Halten von Vorlesungen verpflichtete. Für seinen Unterhalt musste er auf Nebenjobs wie den eines Unterbibliothekars
an der Königsberger Schlossbibliothek ausweichen. Erst im Jahr 1770, im gesetzten Alter von sechsundvierzig Jahren, erhielt
der Privatdozent für Philosophie Immanuel Kant den ersehnten Lehrstuhl für Metaphysik und Logik und wurde ordentlicher Professor
an der Universität Königsberg.
Inzwischen hatte sich seine eigene philosophische Position herausgebildet, mit der er sich von der damals in Deutschland vorherrschenden
Lehre, der Leibniz-Wolffschen Schulphilosophie, absetzte. Diese war, in der Nachfolge des von René Descartes begründeten Rationalismus,
fest von der Fähigkeit der menschlichen Vernunft überzeugt, sichere Erkenntnisse aus sich selbst heraus zu begründen. Dies
betraf vor allem die ganz wichtigen, »großen« Themen. Die rationalistische Metaphysik glaubte, der Beweis sowohl für die Existenz
Gottes als auch für die menschliche Willensfreiheit und die Unsterblichkeit der Seele liege in der Vernunft des Menschen.
Gottfried Wilhelm Leibniz sprach deshalb in der Nachfolge Descartes’ von »Vernunftwahrheiten«. Christian Wolff wiederum modellierte
die sehr verstreut erschienenen Leibnizschen Thesen zu einem groß angelegten, für die öffentliche Lehre geeigneten System.
Die »reine« Vernunft der Leibniz-Wolffschen Schulphilosophie wurde für Kant zur großen philosophischen Herausforderung.
Anstöße für eine kritische Auseinandersetzung mit der rationalistischen Metaphysik kamen aus drei verschiedenen Richtungen.
Da war zum einen die Theorie des großen englischen Mathematikers und Physikers Isaac Newton, der, sich auf Beobachtungen und
Experimente stützend, die Schwerkraft zur Grundlage einer umfassenden mechanistischen Welterklärung gemacht hatte. Als
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