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Grundlage
der Wissenschaft hatte der junge Kant die empirische Forschung im |110| Sinne Newtons schon früh anerkannt. Zeugnis dafür ist zum Beispiel seine 1755 veröffentlichte Schrift
Allgemeine Theorie des Himmels oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebäudes, nach
Newtonschen Grundsätzen abgehandelt
, in der die Entstehung unseres Sonnensystems aus Elementarteilchen erklärt wird.
Erst in den sechziger Jahren jedoch sieht Kant die Physik im Sinne Newtons nicht nur als Vorbild für die Wissenschaft, sondern
auch als Vorbild für die Philosophie. In einer der Berliner Akademie der Wissenschaften eingereichten Schrift über die Grundsätze
der Theologie und Moral fordert er nun, dass die Philosophie sich die Methode aneignen müsse, die Newton in die Naturwissenschaft
eingeführt hatte. Gemeint ist die »induktive« Methode, die allgemeine Gesetze aus Einzelbeobachtungen ableitet. Sie steht
im Gegensatz zur »deduktiven« Methode, die Erkenntnisse aus der Analyse von Begriffen und Urteilen ableitet, also umgekehrt
vom Allgemeinen auf das Besondere schließt. Die logische, deduktive Analyse allein kann uns – so Kant – aber nichts über die
Erfahrungswelt sagen. In diesem Sinne spricht er im Jahre 1762 davon, dass die formale Logik »ein Koloss auf tönernen Füßen«
sei.
Im selben Jahr macht er die Bekanntschaft eines Philosophen, den er selbst als »zweiten Newton« bezeichnet: Jean-Jacques Rousseau,
der aus dem kalvinistischen Genf stammende Philosoph der Natürlichkeit und Kritiker der Zivilisation. Für die Lektüre von
Rousseaus Erziehungsroman
Émile
unterbrach Kant sogar seinen ansonsten streng geregelten Arbeitsalltag. Während Newton den Blick auf den Kosmos gelenkt hatte,
öffnete Rousseau Kant die Augen für die Natur des Menschen, die für ihn mehr ist als nur Vernunft und Intellektualität.
Das eigentliche Verdienst, ihn aus seinem »dogmatischen Schlummer« geweckt zu haben, hat Kant später allerdings dem schottischen
Aufklärungsphilosophen David Hume zugestanden. Für Hume gibt es überhaupt keine Erkenntnis ohne Erfahrung. Er geht sogar so
weit zu behaupten, dass keine Erkenntnis auf einer absolut sicheren Grundlage steht. Auch Behauptungen wie »A ist die Ursache
von B« |111| könnten selbst dann nicht endgültig bewiesen werden, wenn sie auf der vielfachen Beobachtung beruhen, dass B immer auf A folgt.
Es handle sich hier lediglich um Gewohnheitsurteile. Humes Skeptizismus stellte somit auch den Gewissheitsanspruch der Newtonschen
Naturwissenschaft in Frage.
Die Einflüsse Newtons, Rousseaus und Humes ließen Kant vom traditionellen Rationalismus abrücken. Er begann nun sogar, sich
über metaphysische Spekulationen lustig zu machen. Den Ruhm des schwedischen Philosophen Emanuel Swedenborg, dem telepathische
Fähigkeiten nachgesagt wurden, nahm er 1766 zum Anlass der polemischen Schrift
Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik,
in der er auch die Anhänger einer »reinen Vernunft« mit Geistersehern verglich.
Spätestens im Jahr 1769, dem Jahr, in dem ihm nach eigener Aussage das entscheidende Licht aufgegangen sei, war Kant klar
geworden, dass es von Gott, der Unsterblichkeit der Seele, der Freiheit oder den Anfangsgründen der Welt keine Erkenntnis
in dem Sinne geben kann, in dem wir von einer Erkenntnis der normalen Dinge der Welt sprechen. So weit folgte er dem Skeptizismus
Humes. Doch den von Newton übernommenen wissenschaftlichen Anspruch gab er nicht auf. Er glaubte, im Gegensatz zu Hume, weiterhin
daran, dass die Gewissheit von Behauptungen wie »A ist die Ursache von B« nachgewiesen werden kann. Folglich suchte er einen
Mittelweg zwischen Skeptizismus und dem alten Rationalismus, den er nun »Dogmatismus« nannte. Während Newton uns über die
Gesetzmäßigkeiten der äußeren Welt aufgeklärt hatte, wollte Kant die Gesetzmäßigkeiten des Erkenntnisprozesses im Menschen
aufklären. In diesem Vorhaben liegt der Ursprung der
Kritik der reinen Vernunft.
Einen ersten Schritt dazu unternahm er mit seiner Dissertation
De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis (Über die Form und die Prinzipien der Sinnes- und Verstandeswelt)
, die die Universität Königsberg 1770 als Voraussetzung für eine ordentliche Professur von ihm verlangte. Kant zieht hier
einen scharfen Trennungsstrich zwischen einer in Raum und Zeit befindlichen
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