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Wahrnehmungswelt und einer »intelligiblen« Welt,
einer Welt der »Dinge |112| an sich«, ein dem Verstand vorbehaltener Bereich reinen Denkens. Beide dürfen nicht miteinander vermischt werden. Auf die
Frage, wie sich die Sicherheit raum-zeitlicher Erkenntnis erklären lässt, hat er nun eine Antwort gefunden: Raum und Zeit
sind dem Menschen eigene »Formen der Anschauung«, sie haften uns an wie eine Brille. Weil wir alle die gleiche Brille tragen
und diese Brille unveränderlich ist, hat die uns in Raum und Zeit erscheinende Welt einen gesetzmäßigen Charakter. Nur deshalb
können wir auch die Geometrie als eine Wissenschaft betreiben.
Kants »kopernikanische Wende« hatte hier bereits begonnen. Sowohl für die Philosophie als auch für den gesunden Menschenverstand
war es bis dahin selbstverständlich, davon auszugehen, dass Raum und Zeit wirklich existieren, dass die Dinge sich in einem
Raum befinden und den Veränderungen der Zeit unterworfen sind. Kants Position fordert nun ein radikales Umdenken: Raum und
Zeit sind nicht »objektiv«, sondern »subjektiv«, sie sind etwas, das wir selbst mitbringen, wenn wir Dinge anschauen.
Doch wie steht es mit Grundbegriffen wie »Ursache« und »Wirkung«, die vom Verstand hervorgebracht werden? Beziehen sie sich
auf die »Dinge an sich«, wie Kant noch in seiner Dissertation behauptet hatte, oder nicht vielmehr auch auf unsere Erfahrungswelt?
Denn wir gehen doch an Vorgänge der Natur mit dem scheinbar selbstverständlichen Anspruch heran, sie nach dem Schema von Ursache
und Wirkung erklären zu können. Wie kann dieser Anspruch aber begründet werden, wenn, wie Hume gezeigt hatte, eine solche
Begründung aus der Beobachtung – also »empirisch« – nicht gewonnen werden kann? Wie kann also, allgemein gesprochen, nachgewiesen
werden, dass Begriffe und Urteile des Verstandes Gültigkeit für die Sinneswelt besitzen?
Zur Lösung dieser Frage brauchte Kant noch elf Jahre. Seinem langjährigen Berliner Freund Marcus Hertz schrieb er 1771, das
geplante Werk mit dem Titel »Die Grenzen der Sinnlichkeit und der Vernunft« sei in Arbeit. Zwei Jahre später kündigt er Hertz
die Fertigstellung der Schrift für 1774 an. In den nächsten Jahren erhielt Hertz von Kant mehrere Briefe dieser Art. Kant
quälte sich bis zum |113| Frühjahr und Sommer 1780, bis er das Buch schließlich in fünf Monaten abschloss.
Die
Kritik der reinen Vernunft
ist eines der ersten bedeutenden philosophischen Bücher, die in deutscher Sprache geschrieben wurden. Noch im 17. Jahrhundert war es für einen deutschen Philosophen eine Selbstverständlichkeit, seine Schriften in Latein zu veröffentlichen.
Auch ein großer Teil der frühen Schriften Kants ist in lateinischer Sprache verfasst. Kants Buch ist auch in sprachlicher
Hinsicht eine Pionierarbeit, da viele philosophische Begriffe erst in die deutsche Sprache eingeführt werden mussten.
In der
Kritik der reinen Vernunft
unterscheidet Kant nun zwischen drei Erkenntnisvermögen: der sinnlichen Anschauung, die es mit unseren räumlichen und zeitlichen
Vorstellungen zu tun hat, dem Verstand, der diese Vorstellungen mit Hilfe von Begriffen ordnet, und der Vernunft, die uns
anregt, diese Ordnung der Begriffe unter dem Gesichtspunkt einer übergeordneten Einheit zu sehen.
Zwischen Verstand und Vernunft macht Kant also, anders als in seiner Dissertation, einen klaren Unterschied. Und hier liegt
auch die entscheidende Trennlinie seiner gesamten Erkenntnistheorie: Sinnliche Anschauung und Verstand tragen gemeinsam zur
Entstehung unserer Erfahrungswelt bei, sie sind es, die berechtigte und nachprüfbare Erkenntnisse produzieren. Die Vernunft
dagegen, die nach dem Zusammenhang und den letzten Gründen dieser Erfahrungswelt fragt, stellt uns vor ein Problem. Sie drängt
uns Fragen auf, die sie selbst nicht beantworten kann. Es sind die großen und letzten Fragen der Philosophie, wie zum Beispiel:
Gibt es einen Gott? Gibt es menschliche Freiheit? Gibt es eine unsterbliche Seele? Wir können diesen Fragen nicht ausweichen
– und genau dies ist auch der Grund, warum wir uns der Beschäftigung mit Metaphysik nicht entziehen können.
Kant bekennt immer wieder, wie sehr ihm die Beantwortung dieser Fragen am Herzen liegt und wie sehr er selbst ein Liebhaber
der Metaphysik geblieben ist, die einst die »Königin der Wissenschaften« genannt wurde. Doch er konfrontiert den Leser mit
einer ernüchternden
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