Philosophenportal
mit seinen Eltern auf einer mehrjährigen Bildungsreise befand, erblickt in der südfranzösischen Hafenstadt
Toulon angekettete Galeerensklaven, deren Leben aus Qual |123| und Hoffnungslosigkeit besteht. Im Eintrag vom 8. April 1804 hält er diese erschütternden Eindrücke in seinem Reisetagebuch fest. Das Bild »dieser Unglücklichen«, deren Los
er »für bei weitem schrecklicher als Todesstrafen« hält, wird ihm zum Sinnbild menschlicher Existenz überhaupt: Der Mensch
ist wie ein Galeerensklave an seine Individualität und seinen Leib und damit an Krankheit, Leiden und Tod gekettet. Dem jungen
Schopenhauer gerinnt diese Erfahrung zu einer philosophischen Vision: Das Schicksal, so sollte er später formulieren, ist
»Mangel, Elend, Jammer, Qual und Tod«.
Es war der Drang, Erfahrungen philosophisch zu deuten, der seinen weiteren Lebensweg bestimmte. Dem Wunsch seines Vaters,
das Kaufmannsgeschäft zu erlernen, folgte er nicht. Die begonnene Kaufmannslehre brach er nach dessen Tod 1805 ab. Mutter
und Schwester Schopenhauer gaben das Haus in Hamburg auf und siedelten sich in Weimar, im gesellschaftlichen Umkreis des Goethe-Zirkels,
an. Der junge Schopenhauer ging nun seine eigenen Wege. Er ließ sich seinen Anteil am Vermögen auszahlen und erhielt so eine
finanzielle Absicherung, die er durch Geldanlagen stetig vermehrte und die es ihm in späteren Jahren erlaubte, als Privatier
ganz der Philosophie zu leben. Das Abitur holte er am Gymnasium in Gotha nach und begann anschließend das so sehr ersehnte
Philosophiestudium an der Göttinger Universität. Nach vier Studienjahren in Göttingen und Berlin reicht er 1813 seine Doktorarbeit
Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde
an der Universität Jena ein. Mit ihr betritt er die erste Stufe seiner eigenen Philosophie.
Sein Denken, so hat Schopenhauer später reklamiert, habe er aus drei philosophischen Quellen geschöpft: aus der Philosophie
Platons, der Philosophie Kants und den altindischen
Upanischaden
. Platon und Kant lernt er an der Universität kennen: Sie führen ihn zum philosophischen Idealismus, das heißt zu der Auffassung,
dass die Welt nicht das ist, was sie zu sein scheint, dass sich erst hinter der empirischen Realität die wahre Realität auftut.
Schopenhauers Doktorarbeit ist der erste Ausdruck dieses philosophischen Idealismus. Wie Kant in seiner
Kritik der reinen Vernunft
will er die Grenzen der empirisch erfahrbaren Realität ziehen. Diese |124| Welt, die bei Kant »Erscheinungswelt« heißt, nennt Schopenhauer »Vorstellung«. Wir selbst sind es, die dieser Welt eine Ordnung,
eine Struktur geben, indem wir für alle Dinge und Vorgänge einen »Grund« angeben. Alles in dieser Welt ist nach Schopenhauer
dem »Satz vom Grunde« unterworfen, die gesamte Welt der Vorstellungen besteht aus einem Netz von Gründen.
Mit »Grund« meint Schopenhauer in seiner frühen Schrift etwas sehr Umfassendes. Die kausale Erklärung im engeren Sinne, das
heißt die Einordnung eines Dings in den Zusammenhang von Ursache und Wirkung, ist als »Grund des Werdens« nur einer von vier
möglichen Gründen. Daneben gibt es den »Erkenntnisgrund«, das heißt die logische Begründung einer Behauptung, den so genannten
»Seinsgrund«, mit dem wir die Lage eines Gegenstands in Raum und Zeit bestimmen, und schließlich den »Handlungsgrund«, mit
dem wir das Motiv einer Handlung angeben.
Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde
war die Ouvertüre zu Schopenhauers Hauptwerk. Er hatte die Landkarte der vordergründig so genannten »Realität« vermessen,
doch was ihn wirklich interessierte, war die wahre Realität hinter der scheinbaren Realität, das, was Platon in seinen »Ideen«
gesehen und Kant als »Ding an sich« bezeichnet hatte.
Der frisch gebackene Doktor besucht zunächst für einige Monate Weimar, den Wohnort der Mutter. Von ihr, der geistreichen und
schriftstellernden Lebedame, mit der er auf sehr distanziertem Fuß stand, konnte er allerdings kaum Anerkennung erwarten.
Als er ihr seine Doktorarbeit in die Hand drückt, reagiert sie mit einem Naserümpfen: Dies sei wohl etwas für Apotheker –
so ihre erste Stellungnahme, als sie einen Blick auf den Titel wirft.
Es waren zwei andere Begegnungen, die ihn während seines halbjährigen Aufenthaltes in Weimar geistig anregten und der Vollendung
seiner eigenen Gedanken näher brachten. Zum ersten Mal kam es in dieser
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