Philosophenportal
teilt sich uns
ein »Wollen« mit, das wir unmittelbar als unser eigenes Wollen erleben. Von diesem Wollen kann ich in Analogie auf das Wollen
aller anderen Menschen schließen. Und sogar noch mehr: Das Wollen der Menschen ist |127| lediglich Ausdruck einer universalen Kraft und Energie, die in der ganzen Natur wirkt und die die Inder als »Brahma« bezeichnen.
Schopenhauer nennt diese universale Energie nun »Wille«, in Analogie zu dem individuellen Willen, den wir an uns selbst erfahren.
Die Welt der äußeren Erfahrung, der Vernunfterkenntnis und der Wissenschaft ist »Vorstellung«. Die wahre Realität jedoch,
die hinter allem steht und die wir nicht mit den Kategorien des Verstandes erfassen können, das »Ding an sich«, ist der »Wille«.
In ihm bestätigt sich das hinduistische »Tat twam asi« (»Das bist Du«), die Erkenntnis, dass wir den Kern unserer Existenz
in allen anderen Wesen wiedererkennen können. Dass wir die wahre Realität als leibliche, physische Realität erfahren und sich
nur die Erscheinungswelt nach den Vorgaben unseres Erkenntnisvermögens richtet, hat viele Schopenhauer-Interpreten zu der
Frage geführt, ob Schopenhauer wirklich, wie er sagt, ein philosophischer Idealist ist – oder nicht vielmehr ein verkappter
Materialist.
Die Welt als Wille und Vorstellung –
der Titel des Werks, das 1818 vollendet wurde, enthält also bereits die wesentliche Aussage des Werks selbst. Eine ziellose,
kosmische, universale Energie als Grund der Welt und ihre Erscheinung als Vorstellung – dies sind die beiden Hälften, die
wie die einer Muschel aufeinander passen und die Schopenhauersche »Weltanschauung« vollenden.
Während seine großen Zeitgenossen Fichte, Schelling und Hegel, die Vertreter des deutschen Idealismus, noch an die Vernunft
als letzten Grund der Wirklichkeit glaubten, hält Schopenhauer diese Vernunft für ein »Epiphänomen«, das heißt für eine eher
zufällige Zusatzerscheinung, für einen Wurmfortsatz des umfassenden irrationalen Willens. Das Irrationale und nicht das Rationale
regiert die Welt. Der Wille ist kein vernünftig agierender »Weltgeist«, er folgt keinem Plan. Er ist vielmehr in sich zerrissen
und erzeugt gegenläufige Kräfte auch in den Individuen selbst. Aus dieser »Selbstentzweiung« des Willens erklärt sich das
Leiden der Welt, das niemals aufhört, solange es Leben gibt, und das keinen Grund hat – außer das Leben selbst. Die Welt ist
ein Knäuel aus einander widerstreitenden Trieben. Wie das hinduistische Lebensrad, die Tschakra, dreht sie |128| sich immer um sich selbst. Mit der Lehre vom Leiden als der unausweichlichen Konsequenz des Lebens wird Schopenhauers Irrationalismus
zu einem Pessimismus.
Ein düsterer Inhalt – doch in einer ästhetisch sehr attraktiven Form! Schopenhauer, der mehrere Sprachen beherrschte, regelmäßig
ausländische Zeitungen las und auch ein eifriger Leser von Belletristik war, glänzte durch einen kunstvollen und zugleich
äußerst anschaulichen und verständlichen Stil. Das unverständliche Professorendeutsch seiner berühmten Zeitgenossen Fichte,
Schelling und Hegel verabscheute er. Auch wegen ihrer stilistischen Eleganz ist
Die Welt als Wille und Vorstellung
bis heute einer der lesbarsten Klassiker der Philosophiegeschichte.
Das Buch gliedert sich in vier, klar voneinander unterschiedene Teile: eine Erkenntnistheorie, die die Grenzen der uns zugänglichen
empirischen Realität zieht; eine Metaphysik, die aufzeigt, was hinter dieser Realität steckt; eine Ästhetik, in der es um
den Gegenstand und die Betrachtung von Kunst geht, und schließlich eine Ethik, die darlegt, worin moralisches Handeln besteht.
So sehr diese Teile auch gegeneinander abgegrenzt sind, so sehr sind sie auch wieder durch den Grundgedanken des Willens als
letztem Grund der Welt miteinander verbunden.
Im ersten Teil führt Schopenhauer die Überlegungen seiner Doktorarbeit fort: Er beschäftigt sich mit der Art, wie die Welt
uns als »Objekt« erscheint, das heißt mit der normalen äußeren Wahrnehmung der Vielfalt der Dinge und mit unseren Möglichkeiten,
sie wissenschaftlich zu erklären. Es ist die Welt, die dem »Satz vom Grunde« unterworfen ist. In ihr gibt es die Trennung
zwischen erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt.
Schopenhauer folgt hier dem philosophischen Idealismus Kants, der behauptet hatte, dass das erkennende Subjekt mit einer Erkenntnisbrille
versehen ist, durch
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