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die jedes Objekt in einer bestimmten Art und Weise erscheint. Kant hatte diese Brille als einen sehr komplexen
Apparat beschrieben. Schopenhauer vereinfacht diesen Apparat, so dass er schließlich nur noch aus drei Elementen besteht:
Raum, Zeit und Kausalität. Im Prisma von Raum, Zeit und Kausalität bricht sich |129| die Welt in eine Vielheit von Dingen – Schopenhauer nennt dies das »principium individuationis«, das Prinzip der Individuation oder Vereinzelung. Auch eine wissenschaftliche
Erklärung bleibt immer in diesem Erkenntnisrahmen. Sie beschreibt, in welchem Verhältnis Erscheinungen stehen, sie erklärt
aber nicht, was diese Erscheinungen eigentlich sind.
Im zweiten Teil betrachtet Schopenhauer diese Welt quasi von der Rückseite her: Er liefert eine metaphysische Deutung dieser
in Subjekt und Objekt zerfallenen Welt. Hier sagt er, was diese Welt wirklich ist. Sie ist nichts anderes als ein Ausdruck,
eine Erscheinung – Schopenhauer verwendet hier das Wort »Objektivation« – des Willens. Unsere wissenschaftlichen Theorien über die Welt, die
uns darüber aufklären, welche Phänomene auf welche Ursachen zurückzuführen sind, kratzen lediglich an der Oberfläche. Wenn
wir nicht nur fragen: »Warum?«, »Wo?« oder »Wann?«, sondern »Was?«, wenn wir also nach dem Wesen der Dinge fragen, nach dem,
was sie eigentlich sind, stoßen wir auf Naturkräfte, die sich alle auf die einzige Urkraft des Willens zurückführen lassen.
Hier gibt es die Trennung zwischen Subjekt und Objekt nicht mehr. In Wahrheit – und hier wandelt Schopenhauer auf den Spuren
Spinozas, Goethes und der
Upanischaden
– sind alle Dinge eins.
Was die Erscheinungen oder Objektivationen des Willens angeht, führt Schopenhauer eine Unterscheidung ein, die in seinem dritten
Teil wichtig wird. Es gibt nämlich nicht nur die Vielfalt der Einzeldinge, sondern auch so etwas wie ideale Muster, die nicht
dem Werden und Vergehen, also nicht dem Satz vom Grunde unterworfen sind. Schopenhauer identifiziert diese Formen mit den
»Ideen« Platons. Diese Ideen sind – im Gegensatz zu organischen oder anorganischen Wesen – »reine« Objektivationen des Willens.
Die Erkenntnis dieser Formen verlangt vom Menschen eine ganz bestimmte Einstellung, die Schopenhauer »Kontemplation« nennt.
Wenn wir sie betrachten, müssen wir von allem Wollen absehen. Diese Art der Betrachtung gleicht nicht zufällig dem, was Immanuel
Kant anlässlich der Betrachtung des Schönen »interesseloses Wohlgefallen« genannt hat.
|130| Auch Schopenhauer bringt die Ideen in unmittelbare Verbindung mit dem Schönen: Sie sind für ihn nämlich die Objekte der Kunst.
Schopenhauer trägt hier zwei Beobachtungen Rechnung, die man im Umgang mit Kunst macht: In der Kunst geht es immer um etwas
Allgemeines, um etwas, das unabhängig von Ort und Zeit jeden Menschen angeht. Auch machen wir die Erfahrung, dass wir dieses
Allgemeine nicht erkennen, wenn wir von unseren eigenen Interessen und Wünschen beherrscht werden. Die ästhetische Betrachtung
ist immer eine Art Kontemplation, in der das Wollen zurückgestellt wird.
Schopenhauers Ästhetik ist also aufs Engste mit seiner Metaphysik und Erkenntnistheorie verbunden. Das Gleiche gilt für die
Ethik, die Thema des vierten Teils ist. Während in der Ästhetik die Welt der Vorstellung aus dem Bereich des Werdens und Vergehens
in den Bereich der unveränderlichen Ideen aufgelöst wird, geht es in der Ethik, in kunstvoller Symmetrie, um die Auflösung
des Willens, das heißt um die Erlösung von den Kräften, mit denen der Wille den Menschen bindet.
Zwar ist der Mensch nach Schopenhauer wie alle anderen Wesen selbst eine Erscheinung des Willens, doch er nimmt innerhalb
der Natur eine Sonderrolle ein. Im Menschen, genauer gesagt: in der menschlichen Vernunft, gelangt der ansonsten blinde Wille
zur Selbsterkenntnis. Auf dieser Erkenntnis aufbauend, kann der Wille sich »wenden«, das heißt, der Mensch kann sich in seiner
Lebensführung von seiner eigenen Trieb- und Bedürfnisbestimmtheit lösen. Im moralischen Handeln durchbricht er seinen Egoismus
und seine Triebbestimmtheit. Dies kann auf zweierlei Art geschehen: Einmal, indem sich der Mensch mit anderen Wesen solidarisiert
und mit ihnen Mitleid zeigt. Dies gilt für das Verhalten gegenüber allen Kreaturen. So ist Schopenhauer einer der wenigen
Philosophen, der – aufgrund seiner Lehre von der Einheit aller
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