Philosophenportal
kunstvoll versteckt. Es handelt sich um ein dickes, beinahe tausend Seiten umfassendes Buch, das aus Tagebuchaufzeichnungen,
Briefen, Essays und Aphorismen besteht. Kierkegaard hat dieses Werk so verschachtelt aufgebaut, wie es ein postmoderner Romancier
nicht besser hätte machen können: Im Vorwort präsentiert sich uns ein »Herausgeber« |136| , der sich eines Pseudonyms bedient. Er gibt vor, beim Kauf eines Sekretärs einen Stoß Papiere gefunden zu haben, die offenbar
wiederum von mehreren Autoren stammen – der Herausgeber nennt sie »A« und »B«. Beide kennen sich. B wird als ein älterer Freund
von A eingeführt. Nicht genug damit: Unter den Papieren von A findet sich das
Tagebuch des Verführers
, von dem A wiederum behauptet, es stamme gar nicht aus seiner Feder, sondern er habe es lediglich gefunden.
Eines wird dem Leser schon von Beginn an klar: Kierkegaard tut alles, um nicht mit den in den Papieren dargelegten Ansichten
identifiziert zu werden. Er verhält sich in der Tat wie ein Romancier oder Theaterdichter, der bestimmte Figuren auf die Bühne
bringt und sie eine Rolle spielen lässt, die sie als Personen charakterisiert, die sich aber nicht mit der Meinung des Autors
decken muss. Ein Buch also, in dem der Autor nicht das sagt, was er selbst denkt?
Nicht ganz. Wie jeder Philosoph versucht auch Kierkegaard dem Leser die Ergebnisse seines Denkens zu vermitteln. Doch er tut
dies indirekt. Er wählt die Form der »dichterischen« Philosophie, weil das, was er zu sagen hat, nicht theoretisch gelehrt
oder gelernt werden kann. Es geht ihm vielmehr um Lebenseinstellungen, um die »Form«, die wir unserem Leben geben sollen.
Das deutsche Wort »Selbstverwirklichung«, im wörtlichen Sinne genommen, drückt Kierkegaards philosophische Absichten genau
aus: Der Mensch ist aufgefordert, sein Selbst im Leben erst zu erwerben, und dies kann er eben nur »selbst«, das heißt auf
der Grundlage eigener praktischer Entscheidungen, tun. Theoretische Einsichten können dabei nicht mehr als ein Sprungbrett
sein. Dies wird im letzten Satz des Buches noch einmal unterstrichen: »Nur die Wahrheit, die erbaut«, heißt es dort, »ist
Wahrheit für dich.« Es ist ein Schlüsselsatz, auf den Kierkegaard noch einmal eigens in seinen Tagebüchern hingewiesen hat.
»Erbauen« heißt bei ihm so viel wie »unmittelbar packen, ergreifen«. Nur eine Wahrheit, die sich der Mensch in seinem Leben
praktisch zu Eigen macht, kann für ihn wichtig sein. Was theoretisch erkannt wird, aber keine Folgen für das Leben hat, ist,
so Kierkegaard, wie ein Haus, das man baut, aber in dem man nicht wohnt.
|137| Für diese dichterische, indirekte Art, die Wahrheit »an den Mann« zu bringen, hat Kierkegaard den Ausdruck »Existenzmitteilung«
geprägt. Die Existenzmitteilung ist ein Aufzeigen von Möglichkeiten, die der Leser durch eine Entscheidung in die Wirklichkeit
seines eigenen Lebens übersetzen muss. Der Philosoph kann, wie ein Theaterdichter, verschiedene Lebenshaltungen auf verschiedene
Rollen verteilen, diese Rollen dem Leser »vorspielen« und ihm somit eine Entscheidungsgrundlage liefern.
Entweder – Oder
will genau dies sein: eine Partitur verschiedener Lebensformen und damit eine Grundlage für die Entscheidung, wie man leben
will.
Damit setzt sich Kierkegaard in einen bewussten Gegensatz zur Philosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels, dessen Denken die
damalige geistige Welt beherrschte. Nach Hegel ist die Wirklichkeit ein Prozess, bei dem sich die Vernunft in der Geschichte
offenbart. Dabei, so schien es Kierkegaard, bleibt für den einzelnen Menschen nur die Rolle des Zuschauers, der sich staunend
dem Treiben einer Weltvernunft gegenübersieht, ohne dass er weiß, wie ihm geschieht. Im Gegensatz zu Hegel richtet Kierkegaard
seine Aufmerksamkeit ganz auf das, was der Einzelne wirklich aus seinem Leben macht.
Es verwundert daher nicht, dass
Entweder – Oder
auch in einem besonders engen Verhältnis zum Leben seines Autors steht. Der 1813 geborene Sören Kierkegaard wuchs als jüngster
Sohn in einem streng protestantischen Elternhaus auf, das vor allem durch die düstere Frömmigkeit seines Vaters Michael Pedersen
Kierkegaard geprägt war. Dieser hatte es vom armen jütländischen Bauernsohn zum wohlhabenden Kopenhagener Bürger und Kaufmann
gebracht, der allen seinen Kindern materielle Sicherheit und eine gute Ausbildung verschaffen konnte. Doch sein gesamtes
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