Philosophenportal
Leben
lang war er von Schuldbewusstsein geplagt, das aus zwei Ereignissen herrührte: Als kleiner Junge hatte er, verzweifelt über
seine ärmlichen Lebensumstände, auf der jütländischen Heide Gott verflucht. Und als verheirateter Mann war er ein Verhältnis
mit seiner Magd eingegangen, das er allerdings nach dem Tod seiner Frau legalisierte.
Was bei anderen kaum Spuren hinterlassen hätte und eher als entschuldbare Fehltritte angesehen worden wäre, löste bei Michael |138| Pedersen einen lebenslangen Schuldkomplex und bohrenden Selbstzweifel aus: Wie stehe ich vor Gott? Welche Strafe werde ich
zahlen müssen? Das fragte er sich bis zu seinem Tod. Auch seine Kinder trugen seiner Ansicht nach an dieser Schuld mit. Besonders
seinen hoch begabten Jüngsten, Sören, hatte er ausersehen, einen Teil dieser Schuld dadurch abzutragen, dass er ihn zum Theologen
ausbilden ließ. Doch zumindest auf diesen Sohn hatte sich das Schuldbewusstsein, die Schwermut und die Neigung zum Grübeln
tatsächlich übertragen. Sünde, Schuld, das Verhältnis zu Gott, ein laues oder ein ernsthaft geführtes Leben – es waren die
vom Vater übernommenen Probleme, die Kierkegaard auch in seiner Philosophie nie losließen.
Der Student Kierkegaard versuchte zunächst, sich von dem drückenden moralischen Erbe des Vaters zu befreien. Als er 1830,
mit siebzehn Jahren, an der Universität eingeschrieben wurde, nutzte er die neue akademische Freiheit und wandte sich den
Vergnügungen der Kopenhagener Gesellschaft zu. Er liebte die Opern- und Caféhäuser, die Literatur und das Theater. Aufführungen
von Werken seines Lieblingskomponisten Mozart besuchte er regelmäßig. Sogar ein Bordellbesuch ist überliefert. Der junge Kierkegaard
entwickelte sich zu einem stadtbekannten Müßiggänger und Flaneur.
Vor allem erwies er sich aber als geistreicher und witziger Kopf, der eine Gesellschaft allein unterhalten konnte. Er war
ein glänzender Stilist, der zum Ärger seines Vaters begann, polemische Artikel in der Presse zu publizieren. Manche dieser
Artikel unterzeichnete er mit dem Pseudonym »A« – ein literarisches Mittel, das er in
Entweder – Oder
übernehmen sollte.
Diese Phase seines Lebens endete, als der Vater 1838 starb. Nun fühlte sich Kierkegaard verpflichtet, dessen Erwartungen doch
noch zu entsprechen und sein Theologiestudium abzuschließen. Er war bereit, Verpflichtungen zu erfüllen und Bindungen einzugehen.
Im Juli 1840 legte er schließlich seine theologische Staatsprüfung ab und verlobte sich wenig später mit der zehn Jahre jüngeren
Regine Olsen, Tochter aus bürgerlichem Kopenhagener Hause. Es war eine beiderseitige »romantische« Liebesbeziehung. Die Tür
zum bürgerlichen Lebensglück schien ebenfalls offen: Vor Kierkegaard lagen eine standesgemäße |139| Heirat und eine Karriere in der dänischen lutherischen Staatskirche.
Doch all dies erfüllt sich nicht. Bereits kurz nach der Verlobung holt ihn die tief verwurzelte Schwermut ein. Es kommen ihm
Zweifel, ob er fähig ist, sich vorbehaltlos für einen Partner zu öffnen und für diesen die Verantwortung zu übernehmen. Quälende
Monate folgen, bis Kierkegaard schließlich im Oktober 1841 eine Auflösung der Verlobung erreicht. Für beide wird die Trennung
ein Drama. Für Kierkegaard bleibt sie der Pfahl im Fleisch, der ihn sein ganzes Leben lang bedrängt, ihn aber auch zu ständiger
Produktivität antreibt.
Der Abschied von Regine ist auch der Abschied von einem normalen bürgerlichen Leben. Von diesem Zeitpunkt an lebt Kierkegaard
in dem Bewusstsein, von Gott mit einer besonderen Rolle betraut zu sein: nämlich als »Spion Gottes« dem Geist des echten Christentums
wieder Gehör zu verschaffen. Er sieht sich nun als Außenseiter, der öffentlichen Spott auf sich zu nehmen bereit ist und sowohl
auf soziale Bindungen als auch auf eine Karriere verzichtet. Immer mehr wird ihm klar, dass es für ihn nur eine Form gibt,
mit sich selbst ins Reine zu kommen, der Welt gegenüberzutreten und sich ihr mitzuteilen: die Existenz des Schriftstellers.
Bereits in seiner akademischen Abschlussarbeit
Der Begriff der Ironie mit ständiger Beziehung auf Sokrates
hatte Kierkegaard seine glänzende schriftstellerische Begabung gezeigt. Wie Sokrates tritt er nun, von einer Misson erfüllt,
an die Öffentlichkeit. Wo Sokrates das verborgene Wissen der Menschen dem rationalen Bewusstsein zugänglich machen wollte,
will
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