Pilzsaison: Tannenbergs erster Fall
›Polizeiabsperrung‹, sondern der Schriftzug ›Vorsicht Lebensgefahr‹ geschrieben stand, passiert hatte, machte der inzwischen wieder deutlich verengte Fußweg einen scharfen Rechtsknick.
»Na, endlich, Wolfram!«, wetterte Dr. Schönthaler von weitem. »Wo bleibst du denn so lange? Wir haben 32 Grad im Schatten. Und die Leiche liegt in der Sonne. Die ist schon in Verwesung übergegangen. Komm, schau dir mal die Schmeißfliegen, die Schnaken und das andere Ungeziefer auf ihr an.«
»Danke für das verlockende Angebot! Ich brauch nur zwei Minuten, dann darfst du sie mit in die Pathologie nehmen und dir einen schönen Nachmittag mit ihr machen.«
Tannenberg näherte sich nicht weiter als bis zu einer Distanz von etwa einem Meter dem stark riechenden Leichnam, gerade so nah, dass er alles für ihn Wichtige erkennen konnte: Die gleichen blutverkrusteten Fersen, die gleiche Anordnung der bizzaren Dekoration, das gleiche schmerzverzerrte, schiefe Gesicht – nur der Inhalt des Kehlenspalts war diesmal ein anderer: Ein rotbrauner Hexenröhrling.
Als er die nähere Begutachtung der toten Frau abgeschlossen hatte, kletterte der Leiter des K 1 auf einen neben dem Naturdenkmal befindlichen, mit schmutzigbraunem, fädrigem Moos bewachsenen Felsen, von dem aus er eine sehr gute Distanzsicht auf die Tote hatte.
Die blondgelockte Frau lag auf der obersten der beiden aufeinandergestapelten Sandsteinplatten. Ihre nackten Arme hatte der Täter auf dem Bauch der Toten zu einem Kreuz verschränkt. Der weibliche Leichnam war so um einen senkrecht emporstehenden Felspflock herum angeordnet, dass die mit kurzen Sporthosen bekleideten Beine den langen steinernen Pfeiler wie eine geöffnete Wäscheklammer umschlossen.
Wie Tannenberg einer direkt vor seinen Augen befindlichen größeren Hinweistafel entnehmen konnte, sollte dieser Sandsteinpflock die Erdachse symbolisieren, die nach dem Willen eines Heimatdichters mitten durch die Pfalz geht.
»Rainer, glaubst du, dass dieses Arrangement mit dem Pfeiler irgendeine tiefere Bedeutung hat?«, fragte Tannenberg den mit einem länglichen, pinzettenähnlichen Gegenstand an der Kehle der Toten herumhantierenden Gerichtsmediziner.
»Kann sein. Kann aber auch sein, dass der Kerl nur keine Trennscheibe dabeihatte, mit der er das Ding abschneiden konnte«, entgegnete Dr. Schönthaler mit dem ihm eigenen trockenen Pathologen-Humor.
»Wie lange ist die Frau schon tot?«
»Mensch, Wolf, wie soll ich das bei den Verhältnissen hier denn sagen? Das muss ich alles ganz genau nachrechnen. Schätze mal 12 Stunden, eher weniger.«
»Karl, das sind doch wieder die gleichen Sachen, die da um die Frau rumliegen. Oder ist dir etwas Besonderes aufgefallen?«, wollte Tannenberg von seinem Täterspuren sichernden Kollegen wissen.
»Nein, alles wie bei der ersten«, antwortete der Kriminaltechniker, der direkt neben der toten Frau kniete.
»Und wieder diese Eicheln und die Blüten des roten Fingerhuts?«
»Ja, und die Eicheln wieder in Form dieses Symbols, mit den Trieben nach innen.«
»Und wieder hat das Digitalis versagt, obwohl es doch sonst so ein wirkungsvolles Herzmedikament ist«, landete der Gerichtsmediziner einen weiteren humoristischen Volltreffer.
»Herr Kommissar«, meldete sich plötzlich Förster Kreilinger ungefragt zu Wort. »Fällt Ihnen nichts auf?«
»Was denn, Mann? Ich habe weder Lust, noch Zeit für eine Quizstunde!«, gab Tannenberg genervt zurück.
»Ist Ihnen auf dem Weg hier hoch eine Eiche aufgefallen?«
»Was soll die Frage? Darauf hab ich nicht geachtet.«
»Also, zu Ihrer Information: Hier steht weit und breit keine einzige Eiche. Nur Buchen, Eschen und Birken. Und natürlich alle möglichen Nadelbäume. Erst weit unterhalb des Stalls gibt es eine Eichenschonung.«
»Das heißt, der Mörder hat die gekeimten Eicheln mit hierher gebracht«, bemerkte plötzlich Fouquet, der etwas abseits stand und den Tannenberg deshalb noch gar nicht richtig wahrgenommen hatte.
»Ja, das stimmt. Der Kerl muss diese Dinger zu Hause regelrecht züchten. Vielleicht nur zu dem einen Zweck. Verrückt!«, ergänzte Tannenberg kopfschüttelnd, kletterte von seinem Aussichtsplatz, stellte sein linkes Bein auf die Rückenlehne einer Holzbank und begann damit, sein Diktiergerät zu besprechen.
Als er die von ihm als wichtig erachteten ersten Eindrücke gespeichert hatte, drehte er sich um und blickte erneut auf das Sandsteinmonument, diesmal aber schräg von unten. Er befand sich hier
Weitere Kostenlose Bücher