Pilzsaison: Tannenbergs erster Fall
Der Serienmörder dagegen verkörpert geradezu das Gegenteil der Auffälligkeit.«
»Wieso?«, fragte Geiger verwundert.
»Ganz einfach: Weil er nicht über eine eindimensionale, also einfach gestrickte, geradlinige, leicht zu durchschauende Persönlichkeit verfügt. Der Serienmörder besitzt eine multiple Persönlichkeit.«
Dr. Glück-Mankowski schaute in die Runde und gewann den Eindruck, dass einige der versammelten SOKO-Mitarbeiter mit diesem fachpsychologischen Begriff nichts oder nur wenig anzufangen wussten, deshalb ergänzte sie direkt: »Das heißt er ist in der Lage, jahrelang absolut unauffällig neben und mit uns zu leben. Irgendwann plötzlich geschieht dann mit ihm eine radikale Verwandlung, meist zu Hause. Auslöser für dieses Phänomen sind oft bestimmte Gerüche, Fotos, Geräusche oder ähnliche Dinge. Dann begeht er seine schreckliche Tat und kehrt anschließend wieder in sein normales Leben zurück, so wie wenn nichts geschehen wäre. Diese beiden Faktoren …«
Die Profilerin schrieb die Begriffe ›überdurchschnittliche Intelligenz‹ und ›multiple Persönlichkeitsstruktur‹ auf die Folie. »Diese beiden Faktoren machen die Entlarvung eines solchen Tätertyps so extrem schwierig.«
Für einen Augenblick herrschte absolute Ruhe in dem Konferenzzimmer.
»Es muss aber doch einen Grund für dieses irrsinnige Verhalten geben, irgendeine Ursache, warum ausgerechnet dieser Mensch zum mehrfachen Mörder wird, und ein anderer eben nicht«, zerstörte Susi Rimmel die andächtige Stille.
»Richtig, Frau Kollegin, den gibt es auch. Meist ist es ein psychodynamisches Trauma aus der Vergangenheit des Täters, das diese ganze schreckliche Lawine auslöst. Aber lassen Sie mich noch kurz meinen Vergleich zu Ende führen. Es gibt nämlich einen weiteren gravierenden Unterschied zwischen den beiden Verbrechertypen. Im Gegensatz zu einem gewöhnlichen Mörder, den wir als Handwerker bezeichnen können, weil er irgendeinen Gegenstand funktional einsetzt, um sein Vorhaben zu erfüllen …«
»Mit einem Hammer zum Beispiel«, platzte Geiger dazwischen.
»Zum Beispiel mit einem Hammer, mit dem der Täter einen anderen erschlägt. Richtig! Da ist ganz klar: Der Hammer, also die Tatwaffe, dient nur als Mittel zum Zweck. Ein Serienmörder dagegen versteht sich als Künstler. Er gestaltet ein Kunstwerk, wie ein Bildhauer, der aus einem groben, unförmigen Steinklotz eine differenzierte, ausdrucksstarke Skulptur schafft.«
»Irre!«, warf Wrenger kopfschüttelnd in die Runde.
»Und, liebe Kollegen: Er kultiviert eine spezielle Kunstfertigkeit.«
»Was heißt das konkret?«, wollte Schauß wissen.
»Das heißt, dass zum Beispiel der Tötungsvorgang regelrecht zelebriert wird, vergleichbar vielleicht mit der rituellen Schächtung eines Tieres. Alles, was der Serienmörder macht, ist Teil eines, wenn es nicht so makaber wäre, könnte man sagen liebevoll gestalteten Gesamtkunstwerks, das aus Tat, Mordwaffe, Fundorten, Ritualen usw. besteht.«
Die Kriminalpsychologin schrieb ›Künstler‹ auf die Folie und zusätzlich, ihren weiteren Ausführungen vorgreifend, ›Spieler‹ darunter.
»Spieler?«, fragte Geiger ungläubig und zog seine, wie eine Speckschwarte hellglänzende Stirn in dicke Falten.
»Ja, Spieler. Der klassische Serienmörder ist ein Spieler, und zwar ein ganz ausgekochter, intelligenter Stratege. Er gibt die Regeln vor, er zieht die Fäden in einer perfekt von ihm organisierten Performance. Und: Er ist ein Perfektionist, der alles bis ins Detail plant. Der absolute Kick besteht für ihn nämlich darin, dass er sich darüber ergötzen kann, wie alle Mitspieler, die ja oft gar nicht wissen, dass sie seine Mitspieler sind, genau das machen, was er für sie vorausbestimmt hat.«
»Absolut irre! Das heißt ja: Wir alle sind seine Marionetten!«, rief Fouquet aufgebracht.
»Sehr guter Vergleich, Herr Kollege! Aber es geht noch weiter: Obwohl er sich einerseits wie jede leidenschaftliche Spielernatur sehnlichst wünscht, die absolute Kontrolle über das Spiel zu gewinnen, kann er es andererseits aber auch nicht ertragen, wenn das Spiel zu einfach für ihn wird. Was macht er also, meine Damen, meine Herren?«
Völliges Schweigen.
»Unser Serienmörder verschafft sich einen weiteren Kick, und zwar einen Zeit-Kick.«
»Einen was?«, fragte Meier III verständnislos.
»Einen Zeit-Kick. Das heißt: Er arrangiert zum Beispiel, dass seine Häscher die Leichen jeweils ziemlich schnell finden können
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