Pinguin Mord
Markt
geflogen. Der Türsteher hätte sie um ein Haar die Treppe
ins Freie hinaus geprügelt. Birgit war mit einer Mischung aus
Wut und Trauer im Bauch nach Hause gegangen, während Ulbricht
sich in die Schwebebahn in Richtung Polizeipräsidium gesetzt
hatte, weil ein Irrer versucht hatte, seine Frau umzubringen.
Insgeheim hatte er Birgit stets Recht gegeben. Immer war er den
untersten Weg gegangen, um wenigstens die paar freien Stunden, die
er zu Hause verbringen durfte, seine Ruhe haben zu
können.
Bei einer Geiselnahme
in einem Aldimarkt in Unterbarmen hatte Ulbricht wieder einmal rund
um die Uhr Dienst geschoben, weil sich ein Mann stundenlang in dem
Discountmarkt verschanzt hatte. Als er völlig
übernächtigt in den frühen Morgenstunden nach Hause
gekommen war, hatte Birgit bereits ihre Klamotten gepackt und war
abgehauen. Lange hatte er an der Trennung zu knabbern gehabt und
sich Hals über Kopf in die Arbeit gestürzt. Doch
über den Verlust seiner Birgit war er nie ganz hinweggekommen.
Letztes Jahr hatte er ihre Todesanzeige in der WZ gelesen. Sie war
nach einer »langen schweren Krankheit« gestorben, so
hatte man geschrieben. Er tippte auf den verdammten
Krebs.
Ulbricht
schüttelte den Kopf und leerte die Bierdose mit einem tiefen
Schluck. Jetzt war es zu spät. Er konnte nicht mehr um Birgits
Liebe kämpfen. Sie war nicht nur aus seinem Leben verschwunden
- sie war von dieser Welt gegangen. Ohne einen letzten Gruß,
ohne alles. Zur Beerdigung, die auf dem Friedhof Schellenbeck
stattgefunden hatte, war er nicht erschienen. Nicht, weil er es
nicht für nötig gehalten hatte, ihr die letzte Ehre zu
erweisen. Er hatte sich schlichtweg nicht an ihr Grab getraut.
Vermutlich hatte sie längst einen anderen Mann gefunden, der
um sie trauerte. Der Gedanke daran bereitete ihm heute noch
Magenschmerzen. Sicherlich hätten auf der Beerdigung alle
hinter seinem Rücken getuschelt. Jetzt konnte er es nicht mehr
gut machen. Er hasste es, in der Öffentlichkeit zu stehen.
Trotzdem hatte er sie bis zum Schluss geliebt. Seine Birgit
…
Das Einzige, was ihm
geblieben war, war der verdammte Job. In den wenigen Stunden, in
denen er sein Privatleben genießen konnte, fiel er in ein
tiefes Loch. Jedes Mal griff die Einsamkeit mit eiskalten Klauen
nach ihm. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er die leere Bierdose
in der Faust zerquetscht hatte.
23
Sonntag, 0:10 Uhr,
Marienstraße
»Mach mal Platz,
Dicker!« Heike kletterte unter die leichte Bettdecke. Lange
hatte sie bei einer Flasche Wein mit dem Laptop in der Küche
gesessen und recherchiert. Jetzt war sie um einiges schlauer und
wusste, was zu tun war. Es war spät geworden, und Stefan war
alleine ins Bett gegangen. Er schlief bereits tief und fest. Die
kleine Nachttischlampe verbreitete einen diffusen Lichtschein. Das
Futonbett stand direkt am Fenster. Durch die halb offenen Lamellen
der Jalousie drang das kalte Licht von der Straßenbeleuchtung
der Marienstraße herein. Heike rüttelte an Stefans
Schulter und drehte seine Nase, doch Stefan schnarchte nur leise
weiter. Er ließ sich nicht stören. Heike ließ
nicht locker. »Rutsch rüber, oder soll ich auf dem
Fußboden nächtigen?«
Er rührte sich
nicht. Heike beschloss, ihn auf ihre eigene Art zu wecken und
schickte ihre Finger unter der Bettdecke auf
Wanderschaft.
»Was ist?«
Er war von einem Moment zum anderen hellwach und saß
senkrecht im Bett.
»Deine
Gastfreundschaft lässt sehr zu wünschen
übrig«, rügte sie ihn mit gespieltem Vorwurf und
verschränkte die Arme vor der Brust.
»Das würde
ich so nicht sagen«, erwiderte Stefan und grinste breit.
Bevor Heike sich wehren konnte, zog er sie nach unten und verschloss ihren
offenen Mund mit einem leidenschaftlichen Kuss. Jetzt konnte er ihr
beweisen, wie wach er noch war. Und wie sehr sie ihm gefehlt hatte.
Sie waren sich endlich wieder so nah wie schon seit einer Ewigkeit
nicht mehr. Er strich durch ihr gut duftendes Haar, knabberte an
ihrem Hals und an den Ohrläppchen. Seine Hände glitten
zärtlich über ihren Körper, suchten sich den Weg
unter den dünnen Stoff des T-Shirts, das sie als Nachthemd
zweckentfremdet hatte. Sie erbebte unter seinen Liebkosungen. Er
genoss es, ihre sanften Lippen endlich wieder auf seiner Haut zu
spüren. Darüber vergaßen sie die Welt, und fast war
es so, als wäre Heike nie in Berlin gewesen.
*
»Und?«,
fragte Stefan später.
»Was -
und?« Sie schmiegte sich verschlafen an ihn. Ihre
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