Plattenbaugefühle: Jugendroman
Gefühl im Magen, fast so, als müsste man sich übergeben.«
Ich schaue ihn zweifelnd an, er schmunzelt.
»Aber es ist schön, dieses Gefühl, nicht wie bei einer wirklichen Übelkeit. Man hofft dauernd, dass der andere Zeit für einen hat und ist ganz aufgeregt, wenn man ihn sieht. Man hält es kaum aus ohne ihn, es tut körperlich weh, von ihm entfernt zu sein. Man möchte den anderen berühren, ihn fühlen, ihn kuscheln, küssen. Alles wird leicht, man schwebt.« Er schaut dabei etwas verträumt. Ich mag ihn.
»Ich war es noch nicht. Ich weiß nicht, was ich denken, was ich fühlen soll. Alle scheinen sich schon sicher zu sein, dass ich schwul bin: Fabi, Danny, meine Eltern, meine Omama. Und keiner scheint so richtig damit Probleme zu haben ...«
»Du bist ein liebenswerter, sensibler Junge, den einige Menschen richtig lieb haben. Sie nehmen dich so wie du bist! Sei glücklich darüber!«
»Mh, aber was ist, wenn ich schwul bin? Was soll ich tun? Abwarten? Oder irgendwas unternehmen?«
»Lies mal ›Die Mitte der Welt‹, Jonas! Es ist ein großartiger Jugendroman von Andreas Steinhöfel.«
Wir sitzen noch eine Weile zusammen, trinken Kaffee und reden über Musik. Dann gehe ich in die Stadt, um mir das Buch zu kaufen.
VOR 51 TAGEN UND NÄCHTEN … ER
F reitagmorgen, am Abend soll die Party steigen. Alle sind schon seit Tagen richtig aufgekratzt. Die Mädchen reden die ganze Zeit über Klamotten, die Jungs darüber, was sie alles treiben werden und wie ›geil‹ das alles wird. Überraschenderweise lädt mich Shad M. zu sich nach Hause ein.
Nach einer Pizza zum Mittagessen fange ich an, das Buch zu lesen. Ich fühle mich entspannt und fast selig dabei. Diese Geschichte betrifft mich. Mit Phil kann ich mich identifizieren, und seine Mutter liebe ich.
»Du bist bei einem Mitschüler mit Migrationshintergrund eingeladen!« sagt Mama am Telefon aufgeregt. Sie findet es wundervoll, ist ganz stolz auf mich, nennt mich integriert, lobt mich für meine offene Art und befiehlt mir, unbedingt ein Gastgeschenk mitzunehmen.
»Wie bitte?!«
»Das ist Tradition in orientalischen Ländern!« meint sie, und für solche Fälle habe sie etwas in der Vitrine. Ich soll daraus ein Armband aussuchen und der Mutter einen Gruß von ihr ausrichten.
Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist, gehe in unser Wohnzimmer, vollgestellt mit antiken Möbeln, Vitrinen mit Schmuck darin, Nippes, Kaffeeservices, einer alten Musikkommode mit Plattenspieler und einer schönen Plattensammlung, Janis Joplin, Joni Mitchell, Joan Baez – »Das gehört sich für eine Frau, die in der falschen Epoche lebt mit alten Ledersofas und Erbstücken«, sagt meine Mutter. Es ist kein Geheimnis, dass mein Vater all dies gerne gegen sterile schwarzen Ledermöbel, Glasschränke und anthrazitfarbene glänzende Kommoden austauschen würde. Als wir am Mittwochabend wieder zusammen aßen, eröffnete er mir, dass er mir gerne einen Kurs spendieren möchte. Etwas Kreatives, Literatur oder Theater. Ich solle mich informieren.
Ich nehme aus der Vitrine ein Armband mit kleinen, blauen und grünen, transparent wirkenden Steinen. Ich stecke auch einen Flyer von Mamas Laden ein und kurz darauf stehe ich an der Eingangstüre eines Plattenbaus. Um mich herum wuseln viele kleine Kinder, die fremdländisch aussehen. Auf den Schildern stehen Namen, deren Herkunft ich nicht erraten könnte.
Ungewohnte Gerüche dringen im Treppenhaus in meine Nase, eine Mischung von Curry, Knoblauch, Zwiebeln, Fleisch. Ich laufe an den Wohnungstüren vorbei und höre lautes Geplärre. Eine fremde Welt für mich. Auch vor der Türe von Shad M.s Familie geht es mir so. Irgendwie fühlt es sich wie in einem anderen Land an, diese ausgetretenen Schuhe vor den Türen, die fremden Sprachen, die aus den Wohnungen dringen, die Klamotten, die die Leute tragen, die mir entgegen kommen.
Eine leicht übergewichtige Frau öffnet mir. Sie ist gut angezogen, sehr bunt; ich bin erstaunt, dass sie kein Kopftuch trägt, dafür viel Schmuck, goldene Armreife am einen, ein goldenes Armband mit rotem Stein am anderen Handgelenk. Ich nehme das Armband meiner Mama heraus und drücke es ihr verschämt in die Hand.
»Von meiner Mutter«, sage ich schüchtern, »sie schickt Ihnen viele Grüße.«
Die Frau schaut mich etwas befremdet an. Ich gebe ihr einen Flyer.
»Komm herein. Armband ist schön. Ich muss deine Mutter in Laden besuchen.«
Shad M. drückt mich zur Begrüßung, sagt dabei, wie sehr er sich
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