Plattenbaugefühle: Jugendroman
man eben so trägt in dieser Saison. Sie sind cool drauf und locker. Bei meinen letzten Besuchen haben wir uns super verstanden.
Ich muss ihnen vieles erzählen, vom Umzug nach Kranichstein, dem esoterischen Laden meiner Mutter, von Danny und der EKS und von Afyon, der gerade enführt wird. Sie hören mir begeistert zu. Ich stelle mir Verfolgungsjagden vor, wie Barbara und meine crazy Mum im schicken BMW mit quietschenden Reifen vor den Gangsta-Freunden davonfahren, beide mit stylischen Sonnenbrillen auf der Nase, ein bisschen wie Thelma und Louise in dem gleichnamigen Film. Ich stelle mir vor, wie sie jegliche Ampeln und Stoppschilder ignorieren, in Einbahnstraßen verkehrtherum hineinfahren, irgendwelche Fußgänger-Treppen mit ihrem edlen Wagen hinunter rauschen und die Stoßdämpfer ruinieren. Ich sehe sie vor mir, wie sie in ruhigen Nebenstraßen fahren, aus Angst, gesehen zu werden, und meinen Schatz unter Decken verstecken. Ich muss kichern, weil ich an bestimmte Szenen aus Spionage- und Gangster-Filmen, in denen das oft gemacht wird, denken muss; aber dieses Gefühl wird wieder von Angst und Sorge um ihn verdrängt. Was ist, wenn diese Unmenschen sie wirklich verfolgen und Afyon auf dem Weg vom Auto in den Bahnhof stellen und ihn wieder mitnehmen? Welche Vergeltungsmaßnahmen könnte es da geben? Und sähe ich Afyon in diesem Fall jemals wieder?
Obwohl es nicht besonders warm ist, läuft mir das Wasser an den Schläfen herunter, wie in Nächten mit Albträumen. Anna und Elisa fordern mich auf, ihnen alles genau zu erzählen: Unverfängliche Anekdoten aus Kranichstein, wunderliche Jungs, Plattenbauten, der Junge aus meinen Träumen, die Gefühle. Die Tränen kullern, meine Ängste verhaken sich wie Fische an der Angel. Die Mädchen umarmen mich, möchten helfen, drücken mich ganz fest. Es tut gut. Es tut so gut, menschliche Wärme zu spüren.
Mein Mobiltelefon klingelt. »Schatz, es ist alles gut. Keine Verfolger. Afyon geht es gut. Wir setzen ihn jetzt schnell in den Zug. Ich fahre mit ihm. Wir melden uns sofort, wenn wir in Berlin sind.« Mutters Stimme in voller Aktion.
»Warte doch mal, gib ihn mir!«
»Wir müssen weiter. Bis später!« Der Auflegton durchdringt meine Nerven.
Meine Cousinen schauen mich mit großen Augen an. Ich muss alles Wort für Wort erzählen. Elisa fordert uns auf, Eis essen zu gehen, »und dann wollen wir Bilder von ihm sehen!« sagt sie lächelnd.
»Bilder?« ich bin immer noch verwirrt – warum war meine Mutter denn so aufgeregt?
»Sicher hast du welche auf deinem Handy!«
»Natürlich«, sage ich spontan, »er ist ja der süßeste Junge der ganzen Welt!«
»Ach, unser Cousin ist ja total verliebt!« Anna knufft mich, »wie süß!«
»Ist das nicht ein bisschen komisch für euch?«
»Was meinst du?« Anna schaut mich auf dem Weg zur Eisdiele irritiert an.
»Naja, dass ich in einen Jungen verliebt bin.«
»Ach, was, Jonas!« ruft Elisa und lacht, »wir leben nicht in Kranichstein!«
In der Eisdiele sitzen viele junge Leute, die meisten schwänzen wahrscheinlich den Unterricht, genau wie meine Cousinen, die mit mir kichern und rumalbern.
›Es geht mir gut, ich hab dich lieb‹. Bei der ersten SMS, die ich von Afyon bekomme, schmilzt mein Herz wie das Schokoladeneis im Becher vor mir. Ich schreibe ihm zurück, die Mädchen machen sich lustig, wollen alles genau wissen, ich schwebe auf Wolke sieben.
Beim Telefonat ein paar Stunden später ist er jedoch merkwürdig.
»Ich bin jetzt bei deiner Oma zuhause.«
»Wie findest du sie?«
»Geht schon, geht schon.«
Dankbarkeit äußert sich anders. Er ist nicht der einfachste Mensch auf Erden. Ich möchte nichts von kulturellen Unterschieden erzählen und dem ganzen Scheiß, aber meine Omama ist eine Berlinerin. Sie kann ungehobelte Menschen, die den Mund nicht aufkriegen, nicht ausstehen. Ich ahne Schlimmes.
»Ist alles ok, Omama?« frage ich sie gleich.
»Nee!« Ihre Antworten - frei Schnauze. Sie ärgert sich bereits jetzt über meinen Freund und ich schäme mich, frage mich, ob das alles eine richtige Entscheidung war. Wieso zweifele ich plötzlich so?
Wir verbringen den Abend mit netten Freunden meiner Cousinen, doch ich halte es kaum noch aus ohne Afyon und Omama, ohne Mama und Fabian. Ich möchte nach Berlin, meine Mutter überredet mich dazu, in München zu bleiben. »Du kennst den Plan!« sagt sie und ich verstehe sie nicht so recht, weil es doch jetzt egal ist, nachdem Afyon nicht verfolgt wurde und
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