Ploetzlich Mensch
nach draußen. Vor ihm lag eine weitläufige Rasenfläche, mit vereinzelten Bäumen und einem kleinen Teich. Offenbar grenzte das Zimmer an den Garten des Tempels.
Seltsam, dass man bei dieser schönen Aussicht kein Fenster in die Wand eingelassen hatte. Ein Rütteln an der Zimmertür riss ihn aus se i nen Gedanken. Die Trümmer der eingestürzten Wand blockierten auch die Tür, durch die offenbar jemand versuchte hereinzukommen.
„ Prinzessin! Samoel! Was ist da drin los? Was ist passiert?“, war die Stimme des „Teddybären“ zu vernehmen. Erschrocken blickte die ju n ge Frau auf. Sie wirkte wie ein gehetztes Tier. Ihr Blick glitt zu der Tür und zurück zu dem Trümmerhaufen, unter dem der Glatzkopf begr a ben lag. Dean konnte an ihrem Gesicht ablesen, welchen Weg ihre Gedanken nahmen, noch ehe sie aufsprang und zu dem Loch in der Wand rannte. Er reagierte sofort und folgte ihr.
*
Kalter Nieselregen schlug Clara entgegen, als sie hinaus in den Garten trat. Ihr Körper brannte wie Feuer und ihr Kopf schien die Verbi n dung zu ihren Muskeln verloren zu haben. Ihre Beine liefen einfach von selbst, während die Gedanken hinter ihrer Stirn in wirren Fetzen umherschwirrten.
Was in drei Gottes Namen war gerade passiert? Diese Wut! Diese brennende, alles übermannende Wut, die sie gespürt hatte, als stünde ihr Körper in Flammen. Als könnte sie alles und jeden um sich herum vernichten. War das überhaupt noch sie gewesen? Hatte wirklich sie die Wand ihres Zimmers zerstört und Samoel darunter begraben?
Samoel! Ein heftiger Schluchzer entrann ihrer Kehle. Oh , wie hatte sie ihn gehasst. Tag für Tag hatte er sie mit seiner reservierten För m lichkeit, seiner Strenge, die keinen Widerspruch duldete, und seiner über allem stehenden Arroganz fast in den Wahnsinn getrieben. Aber das, dieses Ende, hatte er nicht verdient. Niemand hatte ein solches Ende verdient.
Der entsetzte Ausdruck, der in seine Augen getreten war, als die Wand auf ihn zustürzte. Sie konnte dieses Bild nicht aus ihrem Kopf verbannen. Ohne es bewusst zu steuern , hatte sie die weitläufige R a senfläche überquert und stand nun am Fuße einer gut drei Meter h o hen Mauer, die den Garten an dieser Seite von der Außenwelt trennte.
Die mit Glasscherben gespickte Mauerkrone hätte ein unüberwindl i ches Hindernis dargestellt, wäre da nicht der alte, krumme Kirschbaum gewesen, der so nah an der Mauer wuchs, dass seine obersten Äste über diese hinausragten. Wie am Abend zuvor erklomm sie die Äste des schief gewachsenen Baumes, ohne dabei auf die Schmerzensschreie ihrer verletzten Hände zu achten. Mit wenigen Bewegungen hatte sie die Baumkrone erreicht.
Sie warf noch einen letzten Blick zurück auf die weiße Tempelanlage. Nie wieder würde sie hierher zurückkommen können. Nun nicht mehr, denn sie war keine unschuldige, reine Seele mehr. Sie war eine Mörd e rin. Sie schluchzte leise. Dann wandte sie sich ab von ihrer Vergange n heit und ließ ihre Füße hinab auf das Pflaster der Außenwelt gleiten.
*
Als er den Stamm des knorrigen Baumes erreichte, hatte die Prinzessin bereits die Mauerkrone überwunden und er konnte das dumpfe G e räusch ihrer Schuhe vernehmen, die auf der anderen Seite auf dem Straßenpflaster aufschlugen.
Sein eigener Aufstieg ging nicht annähernd so schnell vonstatten. Es kostete ihn einige Mühe , den Baum zu erklimmen und ihr zu folgen. Sein geschundener Körper protestierte energisch gegen diese Bea n spruchung. Einmal mehr vermisste er seine Vampirkräfte, die es ihm gestattet hätten, dieses Hindernis viel schneller und mit deutlich mehr Eleganz zu überwinden. Die menschliche Existenz war wirklich una n genehm und mühsam.
Seufzend ließ er sich jenseits der Mauer auf die Straße herabfallen. Er musste sich beeilen, um den Vorsprung, den die Prinzessin bereits ha t te, aufzuholen. Mit schnellem Schritt folgte er dem Geräusch ihrer Schuhsohlen, das durch die schmale Gasse hallte. Es sah nicht so aus, als ob sie ein bestimmtes Ziel hätte. Es erweckte eher den Anschein, als wollte sie so viel Abstand wie möglich zwischen sich und den Te m pel bringen. In atemberaubendem Tempo durchquerten sie die Inne n stadt.
Es kostete ihn Kraft seine schmerzenden Muskeln zum Weiterlaufen zu zwingen, nur mit Mühe konnte er mit ihr Schritt halten. Doch er hatte die nötige Motivation, um weiter und immer weiter zu laufen. Er durfte sie nicht verlieren. Sie war seine einzige Chance wieder normal zu
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