Ploetzlich Mensch
er genau wusste, was für grauenhafte Dinge sie getan hatte. Einen Moment lang starrte sie auf die warme Hand, die ihre Schulter berührte. Sie hatte in all den Jahren ihrer Gefangenschaft fast vergessen, wie gut eine so ei n fache, menschliche Geste der Zuneigung tun konnte. Am liebsten wäre sie ihm um den Hals gefallen und hätte sich an seinen breiten Schultern ihren Tränen hingegeben. Wie sehr vermisste sie die Wärme einer menschlichen Umarmung. Das sichere Gefühl von zwei starken Hä n den gehalten zu werden, die sie vor allem Übel dieser Welt beschützen konnten. Doch es gab noch immer zu viel, das zwischen ihnen stand, und so schaffte sie es nicht, diese letzte Grenze, die sie noch vone i nander trennte, zu überwinden.
*
Der See, von dem Dean gesprochen hatte , war nicht mehr sehr weit entfernt. Er parkte den Wagen an einem entlegenen Plätzchen abseits des Badestrandes, wo im Schatten der Bäume ein Steg für Angler und kleinere Boote lag.
Es war eine Weile her, seit er das letzte Mal hier gewesen war. Ein süffisantes Lächeln umspielte seine Mundwinkel bei dem Gedanken an die wohlproportionierte Nymphe, mit der er sich hier zu einem Sch ä ferstündchen eingefunden hatte. O ja, sie war ein Augenschmaus gew e sen und alles andere als schüchtern. Ihre leuchtenden Augen waren fast so tiefgründig gewesen wie Lillys. Lilly, die große Liebe seines L e bens. Wie hatte er sie nur vergessen können? Und warum verspürte er jetzt diesen seltsamen Druck auf seiner Brust bei dem Gedanken an sie? Seine Hand wanderte erneut zu der Stelle blanker Haut, die durch das Loch in seinem Hemd schimmerte. Nein, von hier stammten die Schmerzen definitiv nicht. Sein Blick glitt zu Clara hinüber. Sie war vom Auto gleich zum Steg hinuntergegangen. Nun kniete sie auf dem wettergegerbten Holz und hatte ihre Arme tief in das kalte Wasser g e taucht. Mit benommenem Blick beobachtete sie, wie sich die rote Kruste von ihrer Haut löste und blutige Schlieren in dem klaren Wa s ser zog.
Dean fühlte sich plötzlich an eine Szene aus einem Theaterstück e r innert, das er vor einiger Zeit mit Nelly besucht hatte, als Dank für eine Recherche, die sie für ihn übernommen hatte. In der Szene, an die er denken musste , hatte eine dem Wahnsinn verfallene Mörderin verzwe i felt versucht, das Blut der begangenen Morde von ihren Händen a b zu waschen. „Wollen diese Hände nimmer rein werden?“
Welch furchtbare Zerstörungskraft in ihr schlummerte. Ihm scha u derte wieder.
Als Clara den Kopf hob und ihn ansah, senkte er beschämt den Blick, in dem Wissen , sie angestarrt zu haben.
Er zog sein blutdurchtränktes Hemd aus. Sein gesamter Oberkörper war bedeckt von einer rotbraunen Kruste.
Wie viel Blut mochte er wohl verloren haben? Egal, er fühlte sich gut. Alles andere war unwichtig. Er warf den Stofffetzen achtlos auf den Boden neben dem Wagen und ging ebenfalls hinunter zum Steg, um sich zu waschen.
Er war sich des wachsamen Blicks, der auf ihm ruhte, bewusst, als er an der Prinzessin vorbeiging, um sich einige Schritte von ihr entfernt niederzulassen.
Aber vielleicht galt der Blick gar nicht ihm, sondern seinem muskul ö sen Oberkörper. Diese Vorstellung gefiel ihm, auch wenn er nicht wirklich überzeugt davon war, dass sie zutraf. Schließlich hatte sie ihn bereits gestern so zu Gesicht bekommen und dabei nicht sonderlich beeindruckt gewirkt.
Bei dem Gedanken an ihre freizügige Begegnung vom Vortag spürte er schon wieder eine Reaktion zwischen seinen Beinen. Verflixt noch mal, warum war dieser verdammte menschliche Körper nur so schwer zu kontrollieren. Er wollte sie nicht verschrecken. Schnell ging er in die Knie und spritzte sich kaltes Wasser auf den freien Oberkörper.
Leider stand Clara genau in dem Moment auf, als er sich nach vorn beugte. Der Steg geriet nur leicht ins Wanken, doch es genügte, um das Gleichgewicht zu verlieren. Er kippte nach vorn und landete kopfüber im See.
Die Kälte des Wassers schockte seinen Körper wie ein Stromschlag, doch sein überraschter Aufschrei erzeugte nur einige gewaltige Luftbl a sen, die ihm die Sicht raubten. Mit Erstaunen wurde ihm klar, dass sein menschlicher Körper nicht unbegrenzt in dieser Flüssigkeit aushalten konnte. Er war auf frischen Sauerstoff angewiesen.
Wo war oben und wo unten? Wo war die verflixte Wasseroberfläche? Panik keimte in ihm auf, während er wild rudernd versuchte, die Or i entierung zurückzugewinnen. Etwas berührte seine
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