Ploetzlich Mensch
Torso eines der Minotauren. Von seinem Kopf fehlte jede Spur. Die Wunde an seinem Hals war grob und ausgefranst, als hätte ihm jemand den Kopf einfach von den Schultern gerissen. Ein Stück weiter lag der Mensch. Seine ehemals weiße Robe war rot vom Blut, das aus vielen tiefen Wunden floss. Seine Augen waren weit aufgerissen und starrten ins Nichts. D e an war sich nicht sicher, ob er bereits tot war, doch es konnte nicht mehr viel Leben in ihm stecken.
Neben dem Mann klaffte ein Loch in der massiven Marmorbrüstung des Treppenhauses. Ein Großteil des Bodens war ebenfalls ve r schwunden und gab den Blick auf das darunterliegende Erdgeschoss frei, wo sich die Überreste des zweiten Minotaurus befanden, der nur noch umrisshaft als solcher zu erkennen war. Etwas hatte ihn mit so l cher Kraft zu Boden geschleudert, dass er halb in dem massiven Stei n fußboden versunken war. Er wirkte wie ein Insekt, das von einem sehr großen Fuß zertreten worden war. Es schauderte Dean bei diesem A n blick. Was zur Hölle war hier passiert?
Ein Wispern drang an sein Ohr. Verwundert wandte er sich um und versuchte das Geräusch zu lokalisieren. Einige Meter von ihm entfernt kroch etwas über den Boden. Es war nicht größer als eine Faust und als er näher heran trat, erkannte er, dass es sich um die Ratte namens Windsniff handelte, die bei den Angreifern gewesen war. Ihre Hinte r beine hingen schlaff und seltsam verdreht herab, von ihrem Schwanz war nur noch ein blutiger Stummel verblieben. Ihre Augen waren weit aufgerissen, doch sie wirkten leer und unfokussiert. Offenbar hatte i r gendetwas sie geblendet.
„ He du, Kriechtier. Was ist hier passiert?“ Doch die Ratte nahm ihn überhaupt nicht wahr. Wie in Trance kroch sie weiter auf ihre dünnen Vorderpfoten gestützt, während sie immer und immer wieder die gle i chen Worte vor sich hin wisperte.
„ Luminis! Ich habe den Erleuchteten gesehen. Luminis. Ich habe den Erleuchteten gesehen.“
Schaudernd wandte Dean sich von dem verstümmelten Nagetier ab.
Hatte Clara all das hier verursacht? Seine Hand glitt unwillkürlich zu seiner Schulter, deren unverletzte Haut durch ein großes Loch im b lu t getränkten Stoff seines Hemdes deutlich zu sehen war. Ein unang e nehmes, kaltes Kribbeln schien seinen Rücken hinab zu laufen. Welch furchtbares Monster schlummerte in diesem hübschen Wesen mit dem Gesicht eines Engels?
Zwischen den Resten der Abstellkammer fand er seine Reisetasche, die erstaunlicherweise unversehrt geblieben war. Clara lag noch immer fest schlafend in all dem Chaos auf dem Boden.
Wer weiß, zu was für furchtbaren Dingen dieses Monster in ihr noch fähig ist. Es wäre vermutlich klüger, sie einfach hier liegen zu lassen und allein zu fliehen, schoss es ihm durch den Kopf. Doch etwas in ihm sträubte sich zutiefst gegen diese Idee. Er konnte sie nicht zurüc k lassen. Das wäre einfach nicht richtig. Schon möglich, dass er als Va m pir anders gehandelt hätte und sich nicht von diesen seltsamen Gefü h len, die er noch immer nicht wirklich verstand, hätte beeinflussen la s sen. Aber im Moment war er kein Vampir. Er war ein Mensch und als so l cher konnte und wollte er sich nicht von Clara trennen.
Dean ging neben ihr in die Knie und beugte sich leicht über sie. Ihr porzellanfarbenes Gesicht war so schön. Sie wirkte so zart und ze r brechlich in seinen Händen. Ein seltsam warmes Gefühl breitete sich in seiner Brust aus, das gleichzeitig unsagbar schmerzhaft und wunde r schön war. Vielleicht sollte er es jetzt einfach vollziehen. Das Fragment an sie zurückgeben. Wieder er selbst werden. Was immer das bedeuten mochte. Wollte er das wirklich? Irgendetwas hatte sich zwischen ihm und Clara geändert. Etwas, das er nicht benennen konnte, und das sich trotzdem in seinem tiefsten Inneren gut anfühlte. Würde es noch da sein, wenn er sich wieder in einen Vampir verwandelte?
Nun, es war ohnehin noch Tag und sie mussten von hier verschwi n den. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für eine Rückverwandlung. Er spürte Claras warmen Atem auf seiner Haut und ein erregtes Kri b beln durchlief seinen Körper. Doch er schaffte es nicht die wenigen Zentimeter, die seinen Mund noch von dem ihren trennten, zu übe r winden. Langsam richtete er sich wieder auf.
Nein, er konnte diesen Schritt nicht gehen. Noch nicht.
Seufzend beugte er sich wieder vor, schob seine Arme unter ihren Rücken und hob sie vorsichtig hoch. Sie schlief so fest, dass sie es nicht einmal
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