Poirot Rechnet ab
Freund war eifrig beschäftigt, mit schnellen Bewegungen einen winzigen Koffer zu packen. Er schüttelte gedankenvoll den Kopf. »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Mein Gehirn scheint zu versagen.«
»Warum ihn entführen, wenn ein Schlag auf den Kopf auch genügt hätte?«, überlegte ich laut.
»Entschuldigen Sie, mon ami, da bin ich anderer Ansicht. Ich glaube beinahe, sie wollten ihn von vornherein entführen.«
»Aber warum?«
»Weil Unsicherheit Panik erzeugt. Das ist der eine Grund. Wäre der Premierminister tot, müsste man sich mit der Situation abfinden. Aber so lebt man in der Ungewissheit. Wird der Premierminister wiedererscheinen oder nicht? Ist er tot, oder lebt er noch? Niemand weiß es, und ehe sie es nicht wissen, kann nichts Definitives getan werden. Ich sage Ihnen noch einmal, Unsicherheit erzeugt Panik, und das ist es, was unsere Gegner wollen. Zweitens haben die Entführer den Vorteil, nach beiden Seiten Bedingungen stellen zu können. Die feindlichen Regierungen zahlen zwar gewöhnlich nicht gut, aber in diesem Fall kann man sie zwingen, große Zugeständnisse zu machen. Drittens brauchen sie den Henker nicht zu fürchten. Eine Entführung ist dieses Mal entschieden der richtige Coup gewesen.«
»Aber warum haben sie dann versucht, ihn zu erschießen?«
Poirot machte eine ärgerliche Bewegung. »Ach, das ist es ja gerade, was ich nicht verstehe! Es ist unerklärlich – töricht! Sie haben für die Entführung alle Vorkehrungen getroffen – und sehr gute Vorkehrungen dazu. Es ist mir unverständlich, warum sie ein solches Theater inszeniert haben – eine Bande maskierter Männer, und das zwanzig Meilen von London entfernt!«
»Vielleicht stehen die beiden Anschläge in keinerlei Zusammenhang«, sagte ich.
»Nein, an solche Zufälle glaube ich nicht! Schließlich – wer ist der Verräter? Es muss einen Verräter gegeben haben – jedenfalls bei der ersten Geschichte. Aber wer, Daniels oder O’Murphy? Einer der beiden muss es wohl gewesen sein! Warum hat sonst der Wagen die Hauptstraße verlassen? Man kann ja nicht annehmen, dass der Premierminister bei seiner eigenen Ermordung mitgeholfen haben soll! Ist O’Murphy von sich aus von der Hauptstraße abgezweigt, oder hatte Daniels es ihm befohlen?«
»Sicher war es O’Murphy.«
»Ja, denn wenn es Daniels gewesen wäre, hätte der Premierminister diesen Befehl gehört und nach dem Grund gefragt. Es sind überhaupt zu viele Warums in dieser Angelegenheit, und sie widersprechen sich gegenseitig. Wenn O’Murphy ein ehrlicher Mann ist, w a rum hat er dann die Hauptstraße verlassen? Aber wenn er nicht ehrlich ist, warum hat er dann, obwohl erst zwei Schüsse gefallen waren – den Wagen wieder gestartet, und dadurch höchstwahrscheinlich das Leben des Premierministers gerettet? Und wiederum, wenn er ehrlich ist, warum ist er, gleich nachdem er Charing-Cross verlassen hatte, zu einem bekannten Treffpunkt der Spione gefahren?«
»Es sieht schlecht aus«, sagte ich.
»Lassen Sie uns den Fall methodisch durchgehen: Was haben wir für und was haben wir gegen diese Männer? Nehmen wir zuerst O’Murphy. Gegen ihn spricht: dass er von der Hauptstraße abzweigte; dass er ein Ire aus der Grafschaft Clare ist; dass er auf mysteriöse und verdächtige Art verschwunden ist. Für ihn spricht: die Schnelligkeit, mit der er das Auto wieder gestartet hat und dadurch das Leben des Premierministers rettete; dass er ein Scotland-Yard-Mann ist, und nach dem Posten zu schließen, den man ihm anvertraute, ein guter Detektiv. Jetzt zu Daniels. Gegen ihn ist nicht viel zu sagen, außer dass man nichts von seiner Abstammung weiß und dass er für einen guten Engländer zu viele Sprachen spricht. Entschuldigen Sie, mein Freund, aber in Fremdsprachen seid ihr Engländer kläglich! Für ihn spricht: Dass er geknebelt, chloroformiert und gefesselt aufgefunden wurde – das sieht nicht so aus, als ob er mit der Sache etwas zu tun haben könnte.«
»Er könnte sich selbst gefesselt und geknebelt haben, um jeden Verdacht abzulenken.«
Poirot schüttelte den Kopf. »Die französische Polizei würde keine solchen Fehler machen. Was hätte es für ihn für einen Sinn gehabt zu bleiben, nachdem das Ziel der Aktion erreicht und der Premierminister entführt worden war? Natürlich hätten ihn seine Komplizen knebeln und chloroformieren können, aber ich kann nicht sehen, was sie damit zu erreichen hofften. Jetzt kann er ihnen nicht mehr nützlich sein, denn er
Weitere Kostenlose Bücher