Polar Star
sie das Licht wieder aus. »Mach die Tür zu«, sagte sie.
»Ich dachte, Sie würden die Tür nie zumachen, wenn Sie russischen Herrenbesuch empfangen?«
»Es gibt für alles ein erstes Mal. Normalerweise finden auf sowjetischen Schiffen nie außerplanmäßige Feste statt, aber wie ich höre, wird eben jetzt in der Cafeteria ganz spontan und ohne Vorankündigung getanzt. Meine Jungs sind gerade auch hingegangen, also ist es wohl genau der richtige Abend dafür, neue Regeln einzuführen.«
Arkadi schloß die Tür und tastete im Dunkeln nach dem Stuhl, den er zuvor neben der Koje hatte stehen sehen. Susan knipste ihre Nachtlampe an, eine Zwanzig-Watt-Birne, die kaum mehr Licht gab als eine heruntergebrannte Kerze.
»So habe ich mir zum Beispiel gesagt, daß ich heute den ersten Mann bumsen würde, der an meiner Tür vorbeikommt. Aber dann waren Sie dieser erste, Renko, und ich hab’s mir anders überlegt. Die Eagle hat Probleme, stimmt’s?«
»Ich weiß aus verläßlicher Quelle, daß es aufhören wird zu schneien.«
»Sie haben schon seit einer Stunde keine Funkverbindung mehr.«
»Aber wir haben sie immer noch auf dem Radarschirm. Sie sind nicht weit hinter uns.«
»Und was ist passiert?«
»Wahrscheinlich sind ihre Antennen vereist. So was kann hier oben jederzeit vorkommen.«
Susan drückte ihm ein Glas in die Hand und schenkte es haarscharf bis an den Rand voll. »Wie beim letztenmal: Wer als erster was verschüttet, bezieht Prügel.«
Arkadi runzelte die Stirn. »Schon wieder dieses norwegische Spiel?«
»Ganz recht. Man nennt die Leute dort oben nicht umsonst Rundköpfe.«
»Gibt es auch eine amerikanische Variante?«
»Freilich«, sagte Susan. »Der Verlierer wird erschossen.«
»Ah, eine sehr kurze Prozedur. Aber ich habe eine bessere Idee. Warum spielen wir es nicht so: Wer als erster was verschüttet, der muß die Wahrheit sagen?«
»Ist das die sowjetische Variante?«
»Ich wollte, es wäre so.«
»Nein«, sagte Susan, »ich bin dafür, daß alles gesagt werden darf, nur eben nicht die Wahrheit.«
»Wenn das so ist«, versetzte Arkadi und nippte vorsichtig an seinem Glas, »dann werde ich mogeln.«
Susan tat es ihm gleich und nahm ebenfalls einen Schluck. Sie war ihm offensichtlich um etliche Gläser voraus, wirkte indes nicht betrunken. Die Nachtlampe diente mehr der Zierde als zur Beleuchtung. Um Susans Augen lagerten dunkle Schatten, ihr Blick aber war nicht weicher geworden.
»Sie haben nicht zufällig irgendwelche Abschiedsbriefe einer Selbstmörderin verfaßt?« fragte Susan spöttisch.
Arkadi stellte das Glas auf den Boden und klopfte seine Taschen nach Zigaretten ab.
»Stecken Sie mir auch eine an«, bat sie.
»Abschiedsbriefe von Selbstmördern - das ist eine Kunst für sich.« Arkadi zündete zwei Belomor mit einem Streichholz an und gab eine davon Susan. Ihre Finger waren glatt und geschmeidig, nicht rissig und rauh vom Säubern steifgefrorenen Fischs wie die seinen.
»Ist das der Fachmann, der da spricht?«
»Nein, nein, ich studiere das Phänomen nur aus der Schülerperspektive. Für mich ist das ein literarischer Bereich, der leider viel zu sehr vernachlässigt wird. Dabei sind die letzten Äußerungen von Selbstmördern so vielseitig. Es gibt den nachdenklichen Abschiedsbrief, den bitteren, anklagenden oder auch den schuldbewußten. Humorvolles ist selten, weil diesen Texten ja immer eine gewisse Förmlichkeit anhaftet. Normalerweise unterschreibt der Verfasser mit seinem Namen oder schließt mit einer Floskel wie: >Ich liebe dich<, >Es ist besser so<, >Behaltet mich als guten Kommunisten in Erinnerung.««
»Aber Sina tat nichts von alledem.«
»Und normalerweise deponiert man diesen Brief so, daß er gleichzeitig mit der Leiche gefunden wird. Oder dann, wenn der oder die Betreffende vermißt wird.«
»Und auch das hat Sina nicht beachtet.«
»Und weil dieser Brief gewissermaßen das letzte Vermächtnis des Schreibers ist, findet er selbstverständlich nichts dabei, ein ganzes Blatt Papier zu verwenden. Er nimmt nicht bloß einen Zettel oder eine halbe Seite aus einem Notizbuch, nicht für den letzten Brief des Lebens. Ach, dabei fällt mir ein: Wie kommen Sie mit Ihren Schreibversuchen voran?« Er deutete auf Susans Schreibmaschine und die Bücher.
»Gar nichts geht voran, ich bin blockiert. Ich dachte, ein Schiff wäre der ideale Platz zum Schreiben, aber …« Sie starrte aufs Schott wie auf ein verblassendes Erinnerungsbild. »Zu viele Menschen auf zu
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