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Polar Star

Polar Star

Titel: Polar Star Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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trockene Kleider gesteckt hatte. Wahrscheinlich hatten Israel und Natascha gemeinsam dieses Kunststück vollbracht, einen Akt, ungefähr so erotisch wie das Ausnehmen eines Fisches. Arkadi hatte eine Vision, in der er sich selbst auf einem Förderband auf die Säge zutreiben sah.
    Obidin und Kolja kamen herein, rumorten stumm im Schrank, holten ein paar Sachen heraus und gingen wieder, ohne von Arkadi Notiz zu nehmen oder davon, daß er in der falschen Koje lag. Auf einem Schiff war es Ehrensache, den Schlaf eines Kameraden nicht zu stören.
     
    Als Arkadi wieder zu sich kam, saß Natascha auf der Pritsche ihm gegenüber. Sobald sie merkte, daß er aufgewacht war, fragte sie: »Israel Israelowitsch hat sich gewundert, warum Sie soviel Aufhebens um Sina machen. Haben Sie sie gekannt?«
    Er fühlte sich seltsam schwach, als sei er im Schlaf verprügelt worden und habe obendrein einen bösen Sonnenbrand abbekommen. Immerhin konnte er jetzt wieder sprechen, oder zumindest zwischen zwei Krampfanfällen einen Wortschwall ausstoßen. »Sie wissen doch, daß ich Sina nicht kannte.«
    »Ich glaubte es zu wissen, ja, doch jetzt frage ich mich eben auch, warum Sie sich ihretwegen so viele Gedanken machen.« Sie sah ihn an, wandte den Blick dann ab. »Ich nehme an, es hilft einem, wenn man sich so engagiert - beruflich, meine ich.«
    »Ganz recht, es ist ein berufsmäßiger Tick, nichts weiter. Natascha, was machen Sie hier eigentlich?«
    »Ich dachte, sie würden vielleicht wiederkommen.«
    »Wer?«
    Sie verschränkte die Arme, als wollte sie sagen, daß sie für Ratespiele nicht aufgelegt sei. »Sie haben Augen wie ein Kaninchen.«
    »Besten Dank.«
    »Sind alle Ermittlungen so wie diese?«
    Er rülpste im Schlaf, und im Handumdrehn stank die ganze Kabine wie eine Tankstelle. Als Natascha das Bullauge öffnete, um frische Luft hereinzulassen, drang von draußen ein klagender Gesang herein:
    »Ihr Wölfe, wo seid ihr, ihr Bestien aus grauer Vorzeit? Wo seid ihr, wo, ihr mein goldäugiger Stamm?«
     
    Wieder eine Räuberballade, wieder eine über Wölfe, auf denkbar sentimentale Weise interpretiert von einem der hartgesottenen Fischer. Oder auch von einem Mechaniker in schmierigem Ölzeug oder gar von einem so pedantisch steifen Offizier wie Slawa Bukowski, denn privat sangen sie alle diese Lieder. Vornehmlich aber waren es die Arbeiter, die gern sangen und dazu ihre auf D-G-B-d-g-b-d gestimmte Gitarre spielten.
     
    »Die Hunde, unsre zahmen Verwandten,
    Die wir uns ausgeliefert wähnten,
    Sie haben mich eingekreist.«
     
    Im Westen stellte man sich den Russen gern als einen langsamen, tapsigen Bären vor. Der russische Mann aber sah sich selbst als Wolf, hager und wild, kaum zähmbar. Auch diese Ballade stammte aus der Feder Wysotskis. Seine Landsleute verehrten Wysotski nicht zuletzt wegen seiner Laster, seiner Sauftouren und seines waghalsigen Fahrstils. Man erzählte sich, ihm sei ein »Torpedo« in den Hintern gepflanzt worden. Ein »Torpedo« war eine Kapsel, die dafür sorgte, das Wysotski jedesmal schlecht wurde, wenn er Alkohol zu sich nahm. Und trotzdem trank er weiter!
     
    »Ich zeige dem Feind mein wölfisches Grinsen,
    Blecke die fauligen Stumpen meiner Zähne,
    Und blutgefleckter Schnee tropft schmelzend
    Vom Schild mit dem Spruch: >Wir sind keine Wölfe mehr!<«
     
    Als Natascha das Bullauge wieder schließen wollte, kam Arkadi vollends zu sich. »Nein, lassen Sie’s auf«, bat er.
    »Aber es zieht.«
    »Bitte.«
    Zu spät. Das Lied war zu Ende; alles, was er jetzt noch hören konnte, war das dumpfe Seufzen der Bugwellen. Der Sänger war derselbe gewesen, den er schon auf Sinas Kassette gehört hatte. Jedenfalls schien es ihm so. Wenn ich ihn doch noch einmal hören könnte, dachte Arkadi, dann würde ich Gewißheit haben. Doch er fing wieder an zu zittern, und Natascha schloß das Bullauge.
     
    Die Tür ging auf, und Arkadi schnellte aus dem Schlaf hoch, das Messer in der Hand. Natascha machte Licht und betrachtete ihn sorgenvoll. »Wen haben Sie erwartet?«
    »Niemanden.«
    »Das ist auch gut so, in Ihrem Zustand könnten Sie nämlich nicht mal eine Maus erschrecken.« Sie löste seine verkrampften Finger vom Griff des Messers. »Außerdem haben Sie es nicht nötig, Gewalt anzuwenden. Sie haben Grips und schalten schneller als die anderen.«
    »Und was nützt mir das? Schließlich kann ich mich doch nicht von diesem Schiff fortdenken.«
    »Verstand ist schon was Wunderbares.« Sie legte das Messer

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