Pompeji
war, und er dachte, wie schnell sich die Natur zurückeroberte, was man ihr genommen hatte – Mauerwerk wurde von Regen und Frost zerkrümelt, Straßen verschwanden unter wucherndem Unkraut, Aquädukte wurden von eben dem Wasser verstopft, das zu leiten sie gebaut worden waren. Die Zivilisation war ein unerbittlicher Krieg, den der Mensch letzten Endes verlieren musste. Er kratzte mit dem Daumennagel an dem Kalk. Hier war ein weiterer Beweis für Exomnius' Faulheit. Der Kalk war fast so dick wie sein Finger. Er hätte alle zwei Jahre abgekratzt werden müssen. An diesem Abschnitt waren seit mindestens einem Jahrzehnt keine Wartungsarbeiten durchgeführt worden.
Mühsam drehte er sich in dem beengten Raum um, hielt die Fackel vor sich und versuchte, in die Dunkelheit hineinzuschauen. Er konnte nichts sehen. Jeden Schritt zählend, setzte er sich in Bewegung, und als er bei achtzehn angekommen war, entfuhr ihm ein Laut der Überraschung. Es war nicht einfach so, dass der Tunnel zur Gänze blockiert war – damit hatte er gerechnet. Vielmehr schien es, als wäre der Grund hochgetrieben worden, als hätte eine unwiderstehliche Kraft von unten auf ihn eingewirkt. Das dicke Fundament, auf dem der Tunnel ruhte, war zerbrochen, und ein Stück von ihm ragte schräg auf. Er hörte Musas gedämpften Ruf: »Kannst du es sehen?«
»Ja, ich sehe es!«
Der Tunnel verengte sich dramatisch. Er musste sich auf Hände und Knie niederlassen und vorwärts kriechen. Das Brechen des Fundaments hatte dazu geführt, dass die Wände nachgaben und die Decke einstürzte. Wasser sickerte durch eine komprimierte Masse aus Ziegelsteinen, Erde und Zementbrocken. Er kratzte mit seiner freien Hand daran, aber hier war der Schwefelgestank am stärksten, und die Flamme seiner Fackel begann zu verlöschen. Rasch bewegte er sich wieder rückwärts und brachte die ganze Strecke bis zum Schacht des Einstiegslochs hinter sich. Als er aufschaute, konnte er die Gesichter von Musa und Corvinus erkennen, die sich schwach vor dem Abendhimmel abzeichneten. Er lehnte seine Fackel gegen die Tunnelwand.
»Haltet das Tau fest. Ich komme heraus.« Er löste das Seil von seiner Taille und ruckte scharf daran. Die Gesichter der beiden Männer waren verschwunden. »Fertig?«
»Ja!«
Er versuchte, nicht daran zu denken, was passieren konnte, wenn sie ihn fallen ließen. Zuerst packte er das Tau mit der rechten Hand und zog sich hoch, dann griff er mit der linken zu und zog abermals. Das Tau schwankte stark. Er schaffte es, Kopf und Schultern in den Schacht zu bringen, und einen Moment lang glaubte er, seine Kräfte würden versagen, aber dann brachte ein weiterer Zug mit jeder Hand auch seine Knie in Kontakt mit dem Schacht, und er konnte seinen Rücken dagegenstemmen. Er beschloss, dass es einfacher war, wenn er das Tau losließ und sich selbst hinaufarbeitete, indem er seinen Körper mit den Knien und dann mit dem Rücken voranschob, bis seine Arme aus dem Einstiegsloch herausragten und er sich in die frische Abendluft hinauswuchten konnte.
Erschöpft lag er auf der Erde und versuchte, von Musa und Corvinus beobachtet, wieder zu Atem zu kommen. Ein voller Mond ging auf.
»Und?«, fragte Musa. »Was hältst du davon?«
Der Wasserbaumeister schüttelte den Kopf. »So etwas ist mir noch nie begegnet. Ich habe eingestürzte Decken gesehen und Erdrutsche an den Flanken von Bergen. Aber das? Es sieht so aus, als wäre ein Stück des Fundaments regelrecht angehoben worden. Das ist mir neu.«
»Corax hat genau dasselbe gesagt.«
Attilius stand auf und blickte in den Schacht hinein. Seine Fackel brannte nach wie vor auf dem Grund. »Dieses Land«, sagte er bitter. »Eigentlich sieht es solide aus. Aber es ist nicht fester als Wasser.« Er setzte sich in Bewegung und folgte dem Verlauf der Augusta. Achtzehn Schritte zählte er ab, dann blieb er stehen. Jetzt, da er die Erde genauer betrachtete, sah er, dass sie sich leicht wölbte. Er kratzte mit dem Fuß eine Markierung in den Boden, dann ging er weiter, wieder zählend. Der gewölbte Abschnitt schien nicht sehr lang zu sein. Sechs Ellen vielleicht oder acht, das ließ sich nicht genau sagen. Er brachte eine weitere Markierung an. Links von ihm vergnügten sich Ampliatus' Männer immer noch in dem See.
Plötzlich wogte Zuversicht in ihm auf. Im Grunde war diese Blockade nicht allzu umfangreich. Je mehr er darüber nachdachte, desto unwahrscheinlicher kam es ihm vor, dass dies das Werk eines Erdbebens war, denn das
Weitere Kostenlose Bücher