PopCo
kommen.
Während Religion, der letzten Stunde vor der Mittagspause, klopft mir das Herz die ganze Zeit bis zum Hals. Dann ist es endlich
so weit. Ich habe Angst, dass Emma ihr Angebot schon wieder vergessen hat, doch als es klingelt, steht sie vor meinem Pult.
«Kommst du dann?», fragt sie.
Die meisten Schüler essen ihr Pausenbrot in der Aula, zusammen mit den anderen, die dort ihr Mittagessen bekommen, aber Emma
und ihre Freundinnen haben einen Weg gefunden, sich in einen der Pavillons auf dem Fachbereich Landwirtschaft zu schleichen.
Michelle, eine von den anderen, hat einen tragbaren Kassettenrecorder dabei, damit wir Musik hören und uns Tanzschritte zu
den Liedern ausdenken können. Das ist richtig klasse! Sie tanzen vor allem zu einem Lied, das ich allerdings nicht kenne.
Heute kann ich noch etwas improvisieren, aber falls ich morgen wieder eingeladen werde, muss ich zusehen, dass ich dieses
Lied kann. Aber erst mal lerne ich meine neuen Freundinnen kennen. Michelle ist klein und blond und geht nach der Schule zum
Eiskunstlaufen. Sie hat sogar eine richtige echte Trainerin! Irgendwann will sie an der Olympiade teilnehmen, aber wir müssen
ihr schwören, das nicht weiterzusagen. Die anderen halten sie sonst für eine furchtbar eingebildete Angeberin, wenn sie das
herausfinden. Sarah und Tanya lieben beide Pferde und gehen an den Wochenenden zusammen reiten. Wenn sie mit der Schule fertig
sind, wollen sie in einem Reitstall arbeiten. Lucy macht Ballett. Emma und ich sind die Einzigen, die neben der Schule nicht
noch was anderes machen. Lucy und Michelle halten Diät, obwohl sie beide schon ganz dünn sind, und auch sonst isst keine ihr
Pausenbrot, was ich seltsam finde. Lucy und Michelle essengar nichts, die anderen mampfen die Schokoriegel, die sie auf dem Weg zum Pavillon am Kiosk gekauft haben.
Der Kiosk ist eine Art Lieferwagen, der jeden Mittag auf den Schulparkplatz kommt und Hot Dogs, Hamburger, Eis, Limo und Schokoriegel
verkauft. Süßigkeiten und Getränke darf man dort kaufen, da ist nichts dabei, aber wenn man sich etwas zu essen kauft, ist
man ein Asi. Das ist alles furchtbar kompliziert.
Ich komme an diesem Mittwoch auch nicht dazu, mein Pausenbrot zu essen, und werfe es deshalb nach der Schule auf dem Weg zur
Bushaltestelle weg, weil ich meinen Großvater, der es immer für mich macht, nicht verletzen will. Hinterher liegt mir das
schlechte Gewissen wie ein Stein im Magen. Als ich heimkomme, rede ich nicht wie sonst mit meinem Großvater über das Voynich-Manuskript,
sondern flüchte sofort nach oben und behaupte, furchtbar viele Hausaufgaben zu haben (noch eine Lüge – ein weiterer Stein
im Magen). Dann lege ich mich mit einem Buch meiner Mutter aufs Bett, höre Radio und warte, bis das Lied gespielt wird, zu
dem die anderen in der Mittagspause getanzt haben. Als es schließlich kommt, nehme ich es auf, und am nächsten Tag kann ich
es auswendig.
KAPITEL DREIUNDZWANZIG
M ein Notizbuch füllt sich rapide …
Der Holzbaustein mit dem A. Kieran, der wissen will, wer ich bin. Identität. DV D-Sammlungen . Mein Traum.
Ich schreibe so schnell, dass mir die Hand weh tut. Es ist mir zwar noch nie passiert, dass ein Traum solche Nachwirkungen
hatte, doch für mich ergibt das alles einen Sinn. Ein identitätsstiftender Kettenanhänger mit einer Art Beweis, ein Medaillon
mit einer Haarlocke darin. Und gar nicht unbedingt nur eine Kette. Vielleicht auch ein Armband. Auf Armbändern lassen sich
alle möglichen Informationen speichern: Krankendaten, Festivalpässe, Glücksbringer von der Patentante. Und das alles, dieses
ganze Chaos der eigenen Identität, kann man gewissermaßen reduzieren, so wie mein Großvater alles, was ich seines Erachtens
über das Stevenson-Heath-Manuskript wissen muss, auf eine einzige Formel gebracht hat. Man kann die eigene Identität zusammenfassen
und bei sich tragen, sodass jeder gleich sieht, wer man ist … oder nein, nicht jeder; natürlich können nur die Leute den Code entschlüsseln, für die diese Informationen bestimmt sind.
Eine kulturelle DNA. DV D-Sammlungen mögen einiges über ihre Besitzer aussagen, aber die trägt man ja nicht ständig mit sich herum. Und Teenager, die für den
DV D-Identitätstest auch noch ein bisschen zu jung sind, haben so viele umständliche Methoden, anderen zu zeigen, wer sie sind. Manches davon
lässt sich in Form von schwarzem Nagellack, Hello-Kitty-Haarspangen,
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