Portrat in Sepia
gedachte,
wobei er auch die Art der Nähte nicht ausließ, eine Information,
die Paulina del Valle ungerührt hinnahm, aber mich brachte sie
aus der Fassung, und ich mußte hinaus aus seinem
Sprechzimmer. Ich setzte mich in die Halle mit den Ölgemälden
und murmelte Gebete vor mich hin. In Wirklichkeit hatte ich
mehr Angst um mich als um sie, der Gedanke, allein auf der
Welt zurückzubleiben, entsetzte mich. Ich war gerade dabei,
über meinen möglichen Waisenstatus zu brüten, als ein Mann an
mir vorbeiging, und er muß gesehen haben, wie käsebleich ich
war, denn er blieb stehen. »Ist was passiert, Kleine?« fragte er
auf spanisch mit chilenischem Akzent. Ich schüttelte verdutzt
den Kopf, ohne zu wagen, ihm ins Gesicht zu sehen, aber ich
muß ihn wohl aus dem Augwinkel genauer betrachtet haben,
denn ich konnte sehr wohl wahrnehmen, daß er jung war,
glattrasiert, hohe Wangenknochen, ein festes Kinn und schräge
Augen hatte; er ähnelte dem Bild von Dschingis Khan in
meinem Geschichtsbuch, wenn er auch weniger wild aussah. Er
war ganz und gar honigfarben, Haar, Augen, Haut, aber in
seinem Tonfall war nichts Honigseimiges, als er mir erklärte, er
sei Chilene wie wir und werde Doktor Suffolk bei der Operation
assistieren. »Señora del Valle ist in guten Händen«, sagte er
ohne jeden Anflug von Bescheidenheit. »Was ist, wenn Sie sie
nicht operieren?« fragte ich stotternd, wie immer, wenn ich sehr
nervös bin. »Der Tumor wird wachsen. Aber machen Sie sich
keine Sorgen, Kind, die Chirurgie hat sich sehr weit entwickelt,
Ihre Großmutter hat gut daran getan, herzukommen«, schloß er.
Ich hätte zu gern herausbekommen, was ein Chilene
hierzulande zu suchen hatte und warum er wohl aussah wie ein
Tatar - man konnte ihn sich ohne weiteres mit einer Lanze in der
Hand und in Felle gehüllt vorstellen -, aber ich schwieg verstört.
London, die Klinik, die Ärzte und das Drama meiner
Großmutter waren zuviel, als daß ich allein damit fertig werden
konnte, ich hatte Mühe, Paulinas Schamgefühl und ihre Gründe
zu verstehen, weshalb sie Frederick Williams auf die andere
Seite des Ärmelkanals fortschickte ausgerechnet dann, wenn wir
ihn am meisten brauchten. Dschingis Khan patschte mir
herablassend auf die Hand und ging.
Entgegen meinen düsteren Befürchtungen überlebte meine
Großmutter die Operation, und nach der ersten Woche, in der
das Fieber regellos stieg und fiel, stabilisierte sich ihr Zustand,
und sie konnte erstmals wieder feste Nahrung zu sich nehmen.
Ich wich nicht von ihrer Seite, außer daß ich einmal am Tag ins
Hotel ging, um zu baden und mich umzuziehen, denn der
Geruch nach Anästhetika, Medikamenten und
Desinfektionsmitteln war wie ein zäher Schleim, der an der Haut
klebte. Ich schlief mit Unterbrechungen auf einem Stuhl neben
der Kranken. Trotz des ausdrücklichen Verbots meiner
Großmutter schickte ich am Tag der Operation ein Telegramm
an Frederick Williams, und dreißig Stunden später kam er in
London an. Ich sah ihn seine sprichwörtliche Haltung verlieren,
als er vor dem Bett stand, in dem seine Frau lag, von Drogen
betäubt, jeder Atemzug ein Winseln, ein paar wirre Haare auf
dem Kopf und keinen Zahn im Mund, eine
zusammengeschrumpfte Greisin. Er kniete neben ihr nieder,
legte die Stirn auf ihre blutlose Hand und flüsterte ihren Namen;
als er wieder aufstand, war sein Gesicht naß von Tränen. Meine
Großmutter, die stets behauptet hatte, Jugend sei kein
Lebensabschnitt, sondern ein Gemütszustand, und jeder sei so
gesund, wie er es verdiene, sah in diesem Krankenhausbett
völlig zerstört aus. Diese Frau, deren Lust auf Leben ihrer
Eßfreudigkeit gleichkam, hatte das Gesicht zur Wand gedreht,
gleichgültig gegen ihre Umgebung, in sich selbst versunken.
Ihre ungeheure Willensstärke, ihre Kraft, ihre Neugier, ihre
Freude am Abenteuer und selbst ihre Gewinnsucht - das Leiden
des Körpers hatte alles ausgelöscht.
In diesen Tagen hatte ich sehr oft Gelegenheit, Dschingis
Khan zu sehen, der den Zustand der Patientin kontrollierte und
der, wie erwartet, leichter ansprechbar war als der berühmte
Doktor Suffolk oder die strengen Oberschwestern des Hauses.
Er beantwortete die ängstlich besorgten Fragen meiner
Großmutter nicht mit vagen Trostworten, sondern mit
vernünftigen Erklärungen, und er war der einzige, der sich
bemühte, ihre Befürchtungen zu mildern, die übrigen
interessierten sich nur für den Zustand der Wunde und
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