Portrat in Sepia
Wirklichkeit und die
Kamera fasse sie gestaltend auf; in der Malerei sei alles Fiktion,
während die Fotografie die Summe des Wirklichen plus der
Sensibilität des Fotografen sei. Ribero gestattete mir keine
sentimentalen oder exhibitionistischen Tricks, ich durfte die
Objekte oder Personen nicht gefällig ummodeln, damit sie
Gemälden glichen; er war ein Feind der künstlichen
Komposition, er ließ mich auch nicht an den Fotoplatten
manipulieren und verabscheute ganz allgemein Lichteffekte
oder verschwommene Fokussierung, er wollte, daß das Bild
ehrlich und einfach sei, aber auch klar bis ins kleinste Detail.
»Wenn Sie die Wirkung eines Gemäldes anstreben, dann malen
Sie, Aurora. Wenn Sie die Wahrheit darzustellen wünschen,
dann lernen Sie, Ihre Kamera zu gebrauchen«, sagte er mir
immer wieder. Amanda Lowell behandelte mich nie wie ein
kleines Mädchen, von Anfang an hatte sie mich ernst
genommen. Auch sie war von der Fotografie gefesselt, die
damals noch niemand als Kunst bezeichnete, für viele war sie
nur ein Mumpitz mehr unter den vielen überdrehten
Verrücktheiten dieses so frivol zu Ende gehenden Jahrhunderts.
»Ich bin zu verbraucht, um noch das Fotografieren zu lernen,
aber du hast junge Augen, Aurora, du kannst die Welt sehen,
wie sie ist, und die andern dazu bringen, sie auf deine Art zu
sehen. Ein gutes Foto erzählt eine Geschichte, erschließt einen
Ort, ein Ereignis, einen Seelenzustand, es ist mächtiger als viele
Seiten Geschriebenes«, sagte sie. Meine Großmutter dagegen
betrachtete meine Leidenschaft für die Kamera als Jugendlaune
und hielt es für wesentlich wichtiger, mich auf die Ehe
vorzubereiten und meine Mitgift auszusuchen. Sie hatte mich
auf eine Schule für junge Damen geschickt, in der ich in
täglichem Unterricht lernte, wie man anmutig eine Treppe
hinaufgeht oder herabsteigt, für ein Bankett Servietten faltet,
verschiedene Menüs je nach Gelegenheit zusammenstellt,
Salonspiele leitet und Blumensträuße ordnet, Talente, die
Paulina für ausreichend hielt, um mit ihnen im Leben einer
verheirateten Frau zu glänzen. Sie hatte Spaß am Kaufen, und
wir verbrachten ganze Nachmittage in den mondänen
Warenhäusern mit dem Aussuchen von irgendwelchem Zeug,
Nachmittage, die ich lieber darauf verwendet hätte, mit der
Kamera in der Hand durch Paris zu streifen. Ich weiß nicht, wie
das Jahr verging. Als Paulina sich offensichtlich von ihren
Leiden erholt hatte und Frederick Williams ein ausgefuchster
Kenner auf den Gebieten Hölzer für Weinfässer und
Käseherstellung vom schärfsten Stänker bis zum allerlöchrigsten
geruchlosen geworden war, lernten wir auf einem Ball der
chilenischen Gesandtschaft aus Anlaß des 18. September, des
Unabhängigkeitstages, Diego Dominguez kennen. Ich hatte
endlose Stunden unter den Händen des Friseurs verbracht, der
auf meinem Kopf einen Turm aus Locken und
perlengeschmückten Zöpfchen aufbaute, eine enorme Leistung,
wenn man bedenkt, daß mein Haar eindeutig zur Pferdemähne
neigt. Mein Kleid war eine Kreation zart wie Meringeschaum,
gesprenkelt mit winzigen Perlchen, die sich im Lauf des Abends
lösten und den Fußboden der Gesandtschaft mit glitzernden
Kieseln übersäten. »Wenn dein Vater dich jetzt sehen könnte!«
rief meine Großmutter bewundernd aus, als ich fertig war. Sie
war von Kopf bis Fuß in Mauve, ihrer Lieblingsfarbe, hatte ein
aufsehenerregendes Collier aus rosa Perlen um den Hals, falsche
Haarteile in einem verdächtigen Mahagonibraun auf die paar
echten gesetzt, tadellose Porzellanzähne und ein bodenlanges,
mit Jett eingefaßtes Cape aus schwarzem Samt. Sie betrat den
Ballsaal am Arm Frederick Williams’ und ich an dem eines
Kadetten von der chilenischen Fregatte, die einen
Höflichkeitsbesuch in Frankreich abstattete; er war ein
langweiliger Junge, an dessen Gesicht oder Namen ich mich
nicht erinnern kann und der aus eigener Initiative die Aufgabe
übernahm, mich über den Gebrauch des Sextanten zu Zwecken
der Navigation aufzuklären. Ich war ungeheuer erleichtert, als
Diego Dominguez sich vor meiner Großmutter aufpflanzte, um
sich mit seinen sämtlichen Nachnamen vorzustellen und zu
fragen, ob er mit mir tanzen dürfe. Dominguez ist nicht sein
wahrer Name, ich habe ihn auf diesen Seiten geändert, weil
alles, was ihn und seine Familie betrifft, geschützt werden muß.
Es genügt, zu wissen, daß es ihn gegeben hat, daß seine
Geschichte wahr ist und daß ich ihm verziehen habe.
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