Portrat in Sepia
glaubte, was er erreiche n wollte. Meine Großmutter
erzählte ihm, mein Vater Matías Rodríguez de Santa Cruz sei
verstorben und meine Mutter sei eine Amerikanerin gewesen,
die wir nicht gekannt hätten, weil sie bei meiner Geburt
gestorben sei, was der Wahrheit immerhin angenähert war.
Diego zeigte sich nicht begierig, mehr zu erfahren, auch meine
Leidenschaft für die Fotografie interessierte ihn nicht, und als
ich ihm erklärte, ich dächte nicht daran, sie aufzugeben, sagte er,
dagegen sei nichts einzuwenden, seine Schwester male
Aquarelle, und seine Schwägerin sticke gern, mit Kreuzstich.
Auf der langen Seereise kamen wir im Grunde nicht dazu, uns
wirklich kennenzulernen, aber wir waren in dem soliden Netz
gefangen, das meine Großmutter in der besten Absicht um uns
gesponnen hatte.
Da es in der ersten Klasse des Dampfers wenig zu
fotografieren gab abgesehen von den Kleidern der Damen und
den Blumenarrangements im Speisesaal, stieg ich oft in die
unteren Decks hinab, um Aufnahmen zu machen, vor allem von
den Reisenden der vierten Klasse, die im Bauch des Schiffes
zusammengepfercht waren: Arbeiter und Einwanderer, die in
Amerika ihr Glück versuchen wollten, Russen, Deutsche,
Italiener, Juden, Menschen, die mit sehr wenig in den Taschen
reisten, aber deren Herzen vor Erwartung überströmten. Mir
schien, daß sie trotz der Unbequemlichkeit und des Geldmangels
ihre Zeit besser verbrachten als die Passagiere der ersten Klasse,
wo alles geschniegelt, förmlich und langweilig zuging. Unter
den Auswanderern herrschte ein leichter, freundschaftlicher
Ton, die Männer vergnügten sich mit Karten oder Domino, die
Frauen setzten sich zu Gruppen zusammen und erzählten
einander ihre Lebensgeschichten, die Kinder bastelten sich
Angelruten zum Fischen und spielten Verstecken; abends kamen
die Gitarren, Akkordeons, Flöten und Fiedeln zu ihrem Recht, es
gab fröhliche Feste mit Gesang, Tanz und Bier. Keinem schien
meine Gegenwart etwas auszumachen, keiner stellte mir Fragen,
und nach wenigen Tagen hatten sie mich als eine der Ihren
akzeptiert, was mir ermöglichte, nach Lust und Laune zu
fotografieren. Auf dem Schiff konnte ich die Negative nicht
entwickeln, aber ich ordnete sie sorgfältig, um es in Santiago
nachzuholen. Auf einem dieser Ausflüge ins Unterdeck stieß ich
mit dem letzten Menschen zusammen, den zu treffen ich hier
vermutet hätte.
»Dschingis Khan!« rief ich aus. »Ich glaube, Sie verwechseln
mich, Señorita…«
»Oh, entschuldigen Sie, Doktor Radovic«, bat ich und kam
mir vor wie eine Idiotin. »Kennen wir uns?« fragte er
verwundert. »Erinnern Sie sich nicht an mich? Ich bin die
Enkelin von Paulina del Valle.«
»Aurora? Na so was, ich hätte Sie nie wiedererkannt. Wie Sie
sich verändert haben!«
Allerdings hatte ich mich verändert. Er hatte mich vor
anderthalb Jahren als Mädchen im Kinderkleid kennengelernt,
und jetzt hatte er eine richtige Frau vor sich, eine Kamera um
den Hals gehängt und einen Verlobungsring am Finger. Auf
dieser Reise begann die Freundschaft, die nach und nach mein
Leben verändern sollte. Doktor Iván Radovic, Passagier der
zweiten Klasse, konnte nicht uneingeladen auf das Deck der
ersten heraufkommen, aber ich konnte hinuntersteigen, um ihn
zu besuchen, und das tat ich oft. Er erzählte mir von seiner
Arbeit mit der gleichen Leidenschaft, mit der ich über das
Fotografieren sprach; er sah mich mit der Kamera arbeiten, aber
ich konnte ihm nicht zeigen, was ich vorher aufgenommen hatte,
weil es in den Koffern ruhte, ich versprach es ihm jedoch für
später, wenn wir in Santiago ankommen würden. Daraus wurde
dann freilich nichts, weil es mich genierte, ihn zu dem Zweck
aufzusuchen; es wäre mir eitel vorgekommen, und ich wollte
einem Mann, der Leben rettete, nicht die Zeit rauben. Als meine
Großmutter erfuhr, daß er auch an Bord war, lud sie ihn sofort
ein, mit uns auf der Terrasse unserer Suite Tee zu trinken. »Mit
Ihnen fühle ich mich hier auf hoher See sicher, Doktor. Wenn
mir noch mal eine Pampelmuse in den Bauch gerät, dann
kommen Sie und schneiden sie einfach mit einem
Küchenmesser wieder raus«, witzelte sie. Die Einladungen zum
Tee und darauffolgendem Kartenspiel wiederholten sich viele
Male, unter den spöttisch distanzierten Augen Diego
Domínguez’. Iván Radovic erzählte uns, daß er sein Praktikum
in der Hobbs-Klinik abgeschlossen habe und nach Chile
zurückkehre, um dort in einem Krankenhaus zu
Weitere Kostenlose Bücher