Portrat in Sepia
ich fähig
war, brieflich das auszudrücken, was ich von Angesicht zu
Angesicht nie hätte aussprechen können; das geschriebene Wort
ist zutiefst befreiend. Zu meiner eigenen Überraschung las ich
jetzt Liebesgedichte statt der Romane, die ich vorher so gern
gemocht hatte; wenn ein toter Dichter am anderen Ende der
Welt meine Gefühle so genau beschreiben konnte, mußte ich
demütig hinnehmen, daß meine Liebe nicht außergewöhnlich
war, ich hatte nichts Neues erfunden, alle Menschen verliebten
sich auf die gleiche Weise. Ich stellte mir meinen Verlobten zu
Pferde vor, wie er im Galopp über sein Land ritt, ein legendärer
Held mit mächtigen Schultern, edel, standhaft und stattlich, ein
Bild von einem Mann, in dessen Händen ich sicher sein würde;
er würde mich glücklich machen, würde mir Schutz, Kinder,
ewige Liebe schenken. Ich stellte mir eine flauschig weiche
zuckersüße Zukunft vor, in der wir schweben würden, in ewiger
Umarmung. Wie roch der Körper des Mannes, den ich liebte?
Nach Humus wie die Bäume dort, wo er herkam, oder nach
Vanille, dem Duft der Kuchenbäckereien, oder vielleicht nach
Meereswasser wie dieser flüchtige Hauch, der mich seit meiner
Kindheit im Schlaf heimsuchte. Plötzlich wurde der Drang,
Diegos Geruch zu kennen, so gebieterisch wie Durst, und ich
schrieb ihm, er möchte mir doch bitte eines der Tücher schicken,
die er immer um den Hals trug, oder eines seiner Hemden,
ungewaschen. Mein Verlobter beantwortete diese feurigen
Briefe mit nüchternen Berichten über das Leben auf dem Lande
- die Kühe, der Weizen, die Trauben, der Sommerhimmel ohne
Regen - und gelassenen Bemerkungen über Mitglieder seiner
Familie. Natürlich schickte er mir nie eines seiner Tücher oder
seiner Hemden. Mit den letzten Zeilen erinnerte er mich dann,
wie sehr er mich liebe und wie glücklich wir sein würden in dem
neuen Adobe- und Ziegelhaus, das sein Vater für uns auf dem
Gut bauen ließ, wie er es vorher schon für Diegos Bruder
Eduardo getan hatte, als der sich mit Susana verlobte, und wie er
es für seine Schwester Adela tun würde, wenn die heiratete.
Generationen hindurch hätten die Dominguez immer
zusammengelebt; die Liebe zu Christus, die Verbundenheit
unter Geschwistern, der Respekt vor den Eltern und harte
Arbeit, schrieb er, seien das Fundament seiner Familie.
Wieviel ich auch schrieb und seufzend Gedichte las, blieb mir
immer noch Zeit übrig, und so kehrte ich in Don Juan Riberos
Atelier zurück, wanderte fotografierend durch die Stadt und
arbeitete nachts in der Dunkelkammer, die ich mir im Haus
eingerichtet hatte. Ich experimentierte mit Platindruck, einer
brandneuen Technik, die wunderschöne Bilder hervorbringt.
Das Verfahren ist einfach, allerdings auch teuer, aber meine
Großmutter kam für die Kosten auf. Man trägt mit dem Pinsel
eine Platinlösung auf das Papier auf und erhält Bilder in den
subtilsten Abstufungen, leuchtende, klare Bilder mit großer
Tiefe, die sich unverändert erhalten. Seither sind zehn Jahre
vergangen, und dies sind immer noch die außergewöhnlichsten
Aufnahmen meiner Sammlung. Wenn ich sie anschaue, steigen
viele Erinnerungen vor mir auf mit derselben Überdeutlichkeit
wie diese Platindrucke. Ich sehe meine Großmutter Paulina,
Severo, Nivea, Freunde und Verwandte, ich kann auch mich auf
einigen Selbstbildnissen betrachten, so wie ich damals war, kurz
vor den Ereignissen, die mein Leben verändern sollten.
Als ich am zweiten Dienstag im März erwachte, war das Haus
in Festgewandung, es hatte eine moderne Gasleitung, Telefon
und einen Aufzug für meine Großmutter, in New York bestellte
Tapeten und funkelnagelneue Möbelbezüge, das Parkett war
frisch gewachst, die Bronze poliert, das Kristall geputzt, und die
Sammlung impressionistischer Gemälde hing an den Wänden
der Salons. Es gab einen neuen Bedienstetenstab in Uniform
unter dem Kommando eines argentinischen Majordomus, den
Paulina dem Hotel Crillón ausgespannt hatte, indem sie ihm das
Doppelte zahlte. »Sie werden über uns den Kopf schütteln,
Großmutter. Niemand hat einen Majordomus, das ist Afferei«,
warnte ich sie.
»Macht nichts. Ich denke nicht daran, mich mit MapucheIndias in Schlappen herumzuärgern, die einem Haare in die
Suppe schmeißen und die Teller auf den Tisch donnern«,
erwiderte sie, entschlossen, die Gesellschaft der Hauptstadt im
allgemeinen und die Familie von Diego Dominguez im
besonderen gründlich zu beeindrucken.
So
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