Portrat in Sepia
im Wörterbuch
hat. Der Name kommt hier ohnedies weniger in Betracht,
wichtig ist, daß dieser tiefinnerliche Aufruhr stärker war als
meine Schüchternheit, und im Schutz der Kutsche, aus der zu
fliehen nicht leicht war, nahm ich sein Gesicht in beide Hände,
und ohne zweimal nachzudenken, küßte ich ihn auf den Mund,
wie ich es vor vielen Jahren Severo und Nivea hatte tun sehen,
entschlossen und gierig. Es war eine einfache und
unwiderrufliche Handlung. Ich kann nicht in Einzelheiten
schildern, was darauf folgte, weil es naheliegend ist und weil
Iván, wenn er es auf diesen Seiten läse, mir einen fürchterlichen
Krach machen würde. Ich muß es sagen: Unsere Kämpfe sind so
denkwürdig, wie unsere Versöhnungen leidenschaftlich; dies ist
keine ruhige, übersüße Liebe, aber man kann zu ihren Gunsten
sagen, daß es eine beständige Liebe ist; Hindernisse scheinen sie
nicht zu schrecken, sondern zu festigen. Die Ehe ist eine Sache
des gesunden Menschenverstandes, der uns beiden abgeht. Die
Tatsache, daß wir nicht verheiratet sind, macht uns unsere
schöne Liebe leicht, jeder kann sich seinem eigenen Kram
widmen, jeder verfügt über seinen eigenen Freiraum, und wenn
wir drauf und dran sind, zu explodieren, bleibt immer noch der
Ausweg, uns für ein paar Tage zu trennen und wieder
zueinander zu finden, wenn uns die Sehnsucht nach den Küssen
überwältigt. Bei Iván Radovic habe ich gelernt, zu fauchen und
die Krallen auszufahren. Wenn ich ihn bei einem Verrat
erwischte - was Gott verhindern möge! -, wie es mir mit Diego
erging, würde ich mich nicht in Tränen verzehren wie damals,
ich würde ihn umbringen, ohne Gewissensbisse. Nein, ich will
nicht über die vertraulichen Spiele reden, die ich mit meinem
Geliebten teile, aber es gibt eine Episode, die ich nicht
verschweigen kann, weil sie mit der Erinnerung zu tun hat, und
die ist ja letztlich der Grund, weshalb ich diese Seiten schreibe.
Meine Albträume sind ein blindes Abtauchen in die dunklen
Hohlräume, wo meine ältesten Erinnerungen schlummern, in
den tiefen Schichten des Bewußtseins blockiert. Die Fotografie
und das Schreiben sind Versuche, die Augenblicke zu packen,
ehe sie vergehen, die Erinnerungen festzuhalten, um meinem
Leben einen Sinn zu geben. Iván und ich waren bereits mehrere
Monate zusammen und hatten inzwischen Übung darin, uns
diskret zu treffen, dank dem guten Onkel Frederick, der seit dem
ersten Tag an über unsere Liebe wacht. Iván mußte in einer
Stadt im Norden einen medizinischen Vortrag halten, und ich
begleitete ihn unter dem Vorwand, die Salpetergruben
fotografieren zu wollen, in denen die Arbeitsbedingungen sehr
schlecht sind. Die englischen Unternehmer weigerten sich, mit
den Arbeitern zu verhandeln, und es herrschte ein Klima
unterschwellig wachsender Gewalt, die einige Jahre später zum
Ausbruch kommen sollte. Als das 1907 geschah, war ich
zufällig dort, und meine Aufnahmen sind das einzige
unwiderlegbare Dokument, daß das Gemetzel von Iquique
tatsächlich geschah, denn die Zensur der Regierung löschte die
zweitausend Toten, die ich selbst am Schauplatz sah, vom
Antlitz der Historie. Aber das ist eine andere Geschichte und hat
auf diesen Seiten keinen Platz. Als ich das erstemal mit Iván in
dieser Stadt war, konnte ich nicht ahnen, daß ich diese Tragödie
später mit ansehen würde, für uns beide waren es kurze
Flitterwochen. Wir schrieben uns im Hotel getrennt ein, und am
Abend, nachdem jeder sein Tagewerk getan hatte, kam er in
mein Zimmer, wo ich ihn mit einer Flasche des fabelhaften Viña
Paulina erwartete. Bislang war unsere Beziehung ein
fleischliches Abenteuer gewesen, eine Erkundung der Sinne, die
für mich grundlegend war, denn sie half mir, die Demütigung zu
überwinden, daß Diego mich abgewiesen hatte, und zu
begreifen, daß ich nicht als Frau gescheitert war, wie ich
gefürchtet hatte. Bei jedem Zusammensein mit Iván hatte ich
mehr Vertrauen gewonnen, hatte Scheu und Schamhaftigkeit
überwunden, aber mir war nicht klargeworden, daß diese
herrliche erotische Spielerei sich zur großen Liebe entwickelt
hatte. In dieser Nacht umarmten wir uns, etwas ermattet vom
guten Wein und von den Anstrengungen des Tages, schön
langsam wie zwei weise Großeltern, die sich schon
neunhundertmal geliebt haben und sich längst nicht mehr
gegenseitig überraschen oder betrügen können. Was war daran
Besonderes für mich? Gar nichts, nehme ich an, außer daß die
Fülle von
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