Portrat in Sepia
Murieta ihrer eigenen Besessenheit
gegenüberstand und begriff, daß ihr Schicksal sie an Tao Chi’ens
Seite sah. Der zhong yi hingegen wußte das bereits sehr viel eher
und wartete mit der schweigenden Beharrlichkeit einer reifen
Liebe.
Die Nacht, in der Eliza sich endlich traute, die acht Meter zu
gehen, die ihr Zimmer von dem Tao Chi’ens trennte, veränderte
ihrer beider Leben so gründlich, als hätte ein Beilhieb die
Vergangenheit bis zur Wurzel abgetrennt. Von dieser Nacht an
gab es weder die kleinste Möglichkeit noch die mindeste
Versuchung umzukehren, es gab nur noch die Herausforderung,
sich einen Raum zu schaffen in einer Welt, die die Vermischung
von Rassen nicht duldete. Eliza kam barfuß, im Nachthemd,
tastend im Dunkel, und stieß Tao Chi’ens Tür auf, überzeugt, sie
unverschlossen zu finden, denn sie war sich sicher, daß er sie
genauso begehrte wie sie ihn, aber trotz dieser Gewißheit
ängstigte sie das Unwiderrufliche ihres Entschlusses. Sie hatte
lange gezögert, diesen Schritt zu tun, denn der zhong yi war ihr
Beschützer, ihr Vater, ihr Bruder, ihr bester Freund, ihre einzige
Familie in diesem fremden Land. Sie fürchtete, all das zu
verlieren, wenn sie seine Geliebte wurde; aber nun stand sie
bereits auf seiner Schwelle, und das Verlangen, ihn zu berühren,
war stärker als die Spitzfindigkeiten der Vernunft. Sie betrat das
Zimmer, und im Licht einer Kerze, die auf dem Tisch stand, sah
sie ihn in Tunika und weißer Baumwollhose mit gekreuzten
Beinen auf dem Bett sitzen und sie erwarten. Eliza war
außerstande, zu überlegen, wie viele Nächte er so verbracht
haben mochte, auf das Geräusch ihrer Schritte im Flur wartend,
sie war zu verwirrt von ihrer eigenen Kühnheit und schauderte
vor Scheu und Vorahnung. Tao Chi’en ließ ihr keine Zeit
zurückzuweichen. Er kam ihr entgegen, breitete die Arme aus,
und sie stolperte blindlings weiter, bis sie gegen seine Brust
stieß, wo sie das Gesicht barg, den so wohlbekannten Geruch
dieses Mannes nach Meerwasser einatmend, und sich, weil ihre
Knie nachgaben, mit beiden Händen an seine Tunika klammerte,
während ein unaufhaltsamer Strom von Erklärungen aus ihr
hervorbrach und sich mit seinen gemurmelten chinesischen
Liebesworten vermischte. Sie fühlte die Arme, die sie
hochhoben und weich auf das Bett niederlegten, spürte den
warmen Atem an ihrem Hals und die Hände, die sie festhielten,
dann bemächtigte sich ihrer ein nicht zu unterdrückendes
Zittern. Nachdem seine Frau Lin in Hongkong gestorben war,
hatte Tao Chi’en sich von Zeit zu Zeit mit schne llen
Umarmungen von käuflichen Frauen getröstet. Seit mehr als
sechs Jahren hatte er nicht mehr wirklich geliebt, aber er ließ
nicht zu, daß Hast ihn zu unbesonnenem Ungestüm hinriß. So
gut kannte er Elizas Körper und war in Gedanken über ihre
sanften Muld en und kleinen Hügel gewandert, daß er jetzt
warten konnte. Sie hatte geglaubt, die Liebe in den Armen ihres
ersten Liebhabers kennengelernt zu haben, aber die Vereinigung
mit Tao Chi’en offenbarte ihr das ganze Ausmaß ihrer
Ahnungslosigkeit. Die Leidenschaft, die sie als Sechzehnjährige
aufgewühlt hatte, um derentwillen sie die halbe Welt durchquert
und mehrmals ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatte, war Blendwerk
gewesen, das ihr heute unsinnig vorkam; damals hatte sie sich in
die Liebe verliebt, hatte sich mit den Brosamen
zufriedengegeben, die ihr ein Mann zukommen ließ, dem mehr
daran gelegen war, fortzugehen als bei ihr zu bleiben. Vier lange
Jahre hatte sie ihn gesucht in der Überzeugung, daß der
idealistische Hitzkopf, als den sie ihn in Chile gekannt hatte,
sich in Kalifornien in den sagenumwobenen Banditen Joaquin
Murieta verwandelt habe. Während jener Zeit hatte Tao Chi’en
auf sie gewartet, weil er sicher war, daß sie früher oder später
die Schwelle, die sie trennte, überschreiten werde. An ihm war
es, sie zu begleiten, als Joaquin Murietas Kopf ausgestellt wurde
- zur Belustigung der Amerikaner und als Abschreckung für die
Latinos. Er hatte geglaubt, Eliza werde den Anblick der
abstoßenden Trophäe nicht ertragen, aber sie stellte sich vor das
Gefäß, in dem der Kopf des vermeintlichen Verbrechers ruhte,
und betrachtete ihn so ungerührt, als handelte es sich um
eingelegten Weißkohl, bis sie ganz sicher war, daß dies nicht der
Mann war, den sie jahrelang gesucht hatte. Im Grunde war seine
Identität ihr gleichgültig, denn während sie so lange der Spur
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