Portrat in Sepia
bewegen. Sehr bald erschienen Paulina,
Williams und zwei Dienstboten, entschlossen, mich
hervorzulocken, aber ich rutschte wieselflink beiseite, wenn mir
eine Hand nahe kam. »Lassen Sie sie, Madam, sie wird schon
alleine hervorkommen«, sagte Williams, aber als einige Stunden
vergangen waren und ich noch immer unter dem Tisch
verschanzt war, schoben sie mir einen weiteren Becher Eis, ein
Kissen und eine Decke zu. »Wenn sie schläft, holen wir sie
vor«, hatte Paulina gesagt, aber ich schlief nicht, dafür pinkelte
ich an Ort und Stelle - ich war mir wohl bewußt, daß man so
etwas nicht tat, aber zu verängstigt, um nach einer Toilette zu
suchen. Ich blieb auch unter dem Tisch, während Paulina zu
Abend aß; von meiner Deckung aus sah ich ihre dicken Beine,
die kleinen Satinschuhe unter den überhängenden Wülsten der
Füße, und die schwarzen Hosen der Diener, die beim Auftragen
der Speisen vorbeigingen. Sie beugte sich ein paarmal unter
ungeheurer Anstrengung herunter, um mir zuzuzwinkern,
worauf ich als einzige Erwiderung das Gesicht gegen die Knie
preßte. Ich starb vor Hunger, Müdigkeit und dem dringenden
Wunsch, auf die Toilette zu gehen, aber ich war ebenso
hochmütig wie Paulina selbst und ergab mich nicht so leicht.
Mit einemmal schob Williams ein Tablett mit dem dritten Eis,
Keksen und einem großen Stück Schokoladenkuchen unter den
Tisch. Ich wartete, daß er fortgehen sollte, und als ich mich
sicher fühlte, wollte ich essen, aber je weiter ich die Hand
ausstreckte, um so weiter weg rutschte das Tablett, das der
Butler an einer Schnur zu sich hinzog. Als ich endlich einen
Keks erwischen konnte, war ich schon außerhalb meiner Höhle,
aber da niemand im Speisezimmer war, konnte ich die
Näschereien in Ruhe verschlingen, rutschte aber schnellstens
wieder unter den Tisch, sowie ich ein Geräusch hörte. Das
gleiche wiederholte sich Stunden später, als es Tag wurde, bis
ich, dem beweglichen Tablett folgend, zur Tür gelangte, wo
mich Paulina del Valle mit einem gelblichen jungen Hund
erwartete, den sie mir in die Arme drückte.
»Der ist für dich, Aurora. Dieses Hündchen fühlt sich genauso
einsam und verschreckt.«
»Ich heiße Lai-Ming.«
»Dein Name ist Aurora del Valle«, erwiderte sie kurz und
bündig.
»Wo ist hier das Klo?« flüsterte ich und klemmte die Beine
zusammen.
Und so begann meine Beziehung zu dieser kolossalen
Großmutter, die das Schicksal mir beschert hatte. Sie brachte
mich in einem Zimmer neben dem ihren unter und erlaubte mir,
mit dem Hündchen zu schlafen, das ich seiner Farbe wegen Caramelo nannte. Um Mitternacht erwachte ich von dem
Albtraum mit den Wesen in den schwarzen Pyjamas, und ohne
lange nachzudenken, floh ich in Paulinas berühmtes Bett, wie
ich vorher jeden Morgen in das meines Großvaters gekrabbelt
war, um mich an ihn zu kuscheln. Ich war es gewohnt, von Taos
festen Armen umfangen zu werden, nichts tröstete mich so wie
sein Geruch nach Meer und der Singsang seiner sanften
chinesischen Worte, die er noch halb im Schlaf zu mir sagte. Ich
wußte nicht, daß andere Kinder nicht ungerufen in das
Schlafzimmer der Erwachsenen gehen und schon gar nicht in
ihre Betten; ich war in engem körperlichen Kontakt mit meinen
Großeltern mütterlicherseits aufgewachsen, war endlos geküßt
und geschaukelt worden, ich kannte keine andere Form des
Trostes oder der Beruhigung als eine Umarmung. Als Paulina
mich sah, wies sie mich entrüstet zurück, aber ich fing sofort an
zu wimmern im Chor mit dem armen Hund, und so kläglich
müssen wir dagestanden haben, daß sie uns winkte, näher zu
kommen. Ich sprang in ihr Bett und zog mir die Decke über den
Kopf. Ich muß wohl gleich eingeschlafen sein, jedenfalls lag ich
am Morgen an ihre großen, nach Gardenie duftenden Brüste
gekuschelt, den Hund zu meinen Füßen. Als ich so zwischen
den florentinischen Delphinen und Najaden erwachte, war das
erste, was ich tat, nach meinen Großeltern Eliza und Tao zu
fragen, und ich erhielt lauter ausweichende Antworten. Ich
suchte sie im ganzen Haus und in den Gärten, dann stellte ich
mich neben die Tür und wartete, daß die beiden mich holen
kamen. Das wiederholte sich die ganze Woche hindurch, trotz
der Geschenke, Spaziergänge und Hätscheleien Paulinas. Am
Sonnabend riß ich aus. Ich war noch nie allein auf der Straße
gewesen und wußte nicht, wie ich mich zurechtfinden sollte,
aber der Instinkt sagte mir, daß ich erst einmal von dem
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