Portrat in Sepia
Hügel
hinuntermußte. So gelangte ich ins Zentrum von San Francisco,
wo ich mehrere Stunden verschüchtert herumlief, bis ich zwei
Chinesen mit einem Karren voll Wäsche sah, denen ich in
einigem Abstand folgte, weil sie meinem Onkel Lucky ähnlich
sahen. Sie gingen nach Chinatown, wo sich alle Wäschereien
von San Francisco befanden, und kaum war ich in diesem mir
wohlbekannten Viertel angekommen, da fühlte ich mich sicher,
wenn ich auch die Namen der Straßen oder die Adresse meiner
Großeltern nicht wußte. Ich war zu scheu und fürchtete mich zu
sehr, als daß ich um Hilfe gebeten hätte, also irrte ich weiter
ziellos durch die Gegend, geführt von den Essensgerüchen, dem
Klang der Sprache und den Hunderten kleiner Läden, in die ich
so oft an der Hand meines Großvaters gegangen war.
Irgendwann überwältigte mich die Müdigkeit, ich setzte mich
auf die Schwelle eines uralten Hauses und schlief ein. Plötzlich
wurde ich unsanft wachgerüttelt von einer schimpfenden alten
Frau, deren Gesicht durch die mit Kohle mitten auf die Stirn
gemalten Augenbrauen aussah wie eine Maske. Ich stieß einen
Entsetzensschrei aus, aber zum Weglaufen war es schon zu spät,
sie hielt mich mit beiden Händen fest umklammert. Sie hob
mich hoch und brachte mich strampelndes Bündel in ein
dreckiges Gelaß, wo sie mich einschloß. Der Raum roch
fürchterlich, und zu der Angst und dem Hunger wurde mir auch
noch so übel, daß ich mich übergeben mußte. Ich hatte keine
Ahnung, wo ich war. Kaum hatte ich mich von der Übelkeit
erholt, begann ich aus vollem Halse nach meinem Großvater zu
schreien, und da kam die Frau zurück und versetzte mir ein paar
Ohrfeigen, daß mir die Luft wegblieb; ich war noch nie
geschlagen worden, und ich glaube, die Überraschung war
größer als der Schmerz. Sie befahl mir in Kantonesisch, den
Mund zu halten, oder sie würde mich mit einem Bambusrohr
verprügeln, dann zog sie mich aus und untersuchte mich
gründlich, besonders den Mund, die Ohren und unten herum,
zog mir ein reines Hemd an und nahm meine verschmutzten
Sachen mit. Ich war wieder allein in dem elenden Raum, der
nach und nach in Dunkel versank, je mehr das Licht abnahm,
das durch das einzige Luftloch drang. Ich glaube, dieses
Abenteuer hat mich gezeichnet, denn seither sind
fünfundzwanzig Jahre vergangen, und ich zittere immer noch,
wenn ich mich an die endlosen Stunden dort erinnere. Zu jener
Zeit sah man Mädchen niemals allein in Chinatown, die
Familien behüteten sie sorgfältig, damit sie nicht durch
Unachtsamkeit auf den verschlungenen Wegen der
Kinderprostitution verschwanden. Ich war noch zu jung dafür,
aber bisweilen raubten oder kauften sie auch Mädchen meines
Alters, um sie von Kindheit an in jeder Form des Lasters zu
schulen. Die Frau kam erst nach Stunden zurück, als es schon
ganz dunkel geworden war, begleitet von einem jüngeren Mann.
Sie betrachteten mich im Licht einer Lampe und fingen dann
hitzig an zu verhandeln in ihrer Sprache, die ich zwar kannte,
von der ich aber sehr wenig verstand, weil ich zu erschöpft war
und halbtot vor Angst. Mehrmals glaubte ich den Namen meines
Großvaters, Tao Chi’en, zu hören. Sie gingen, und ich war
wieder allein, zitternd vor Kälte und Grauen, wie lange, weiß ich
nicht. Als die Tür sich wieder öffnete, blendete mich das Licht
einer Lampe, ich hörte meinen chinesischen Namen, Lai-Ming,
und erkannte die unverwechselbare Stimme meines Onkels
Lucky. Seine Arme hoben mich hoch, und dann wußte ich nichts
mehr, die Erleichterung betäubte mich. Ich erinnere mich weder
an die Fahrt in der Kutsche noch an den Augenblick, an dem ich
in dem Palais auf Nob Hill wieder vor meiner Großmutter
Paulina stand. Ich erinnere mich auch nicht an das, was in den
folgenden Wochen geschah, denn ich bekam die Windpocken
und wurde sehr krank; es war eine konfuse Zeit mit vielen
Veränderungen und Widersprüchen. Heute, wo ich mich
bemühe, lose Enden meiner Vergangenheit zu verknüpfen, kann
ich ohne jeden Zweifel versichern, daß mich das Glück meines
Onkels Lucky gerettet hat. Die Frau, die mich von der Straße
entführt hatte, war zu einem Vertreter ihres Tong gelaufen, denn
nichts geschah in Chinatown ohne Kenntnis und Billigung
dieser Banden. Die ganze Gemeinschaft gehörte den
verschiedenen Tongs an. Es waren mißtrauisch gegeneinander
abgeschottete Bruderschaften, die ihre Mitglieder
zusammenhielten, indem sie Treue und
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