Portrat in Sepia
Mittelklasse, die Balmaceda unterstützt hatte,
kehrte ihm den Rücken, und er antwortete mit hochmütigem
Zorn, denn er war es gewohnt, daß seine Anordnungen
gehorsam befolgt wurden, wie es jeder Großgrundbesitzer
damals war. Seine Familie besaß riesige Ländereien, eine ganze
Provinz mit Eisenbahn, Bahnhöfen, Dörfern und Hunderten von
Bauern; die Männer seines Clans standen nicht in dem Ruf,
gütige Herren zu sein, sondern galten als rüde Tyrannen, die mit
der Waffe unter dem Kopfkissen schliefen und blinden Respekt
von ihren Pächtern verlangten. Vielleicht wollte er deshalb das
Land lenken wie sein eigenes Lehen. Er war ein
hochgewachsener, stattlicher, sehr männlich aussehender Mann
mit einer klaren Stirn und edler Haltung, Sohn einer
romanhaften Liebe, aufgewachsen auf dem Pferderücken, die
Reitgerte in der einen Hand und die Pistole in der anderen. Er
hatte das Priesterseminar besucht, war aber nicht der Mann für
die Soutane; er war leidenschaftlich und eitel. Er wurde el
Chascón, Zottelkopf, genannt gerade wegen seiner Neigung,
sorgsamst auf Frisur, Schnurrbart und Backenbart zu achten und
sie alle paar Wochen zu wechseln; auch über seine zu eleganten,
aus London bezogenen Anzüge wurde geredet. Man machte sich
lustig über seine großsprecherische Rhetorik und seine allzu
flammenden Liebeserklärungen an Chile, es hieß, er identifiziere
sich so mit dem Land, daß er es sich ohne seine Person an
führender Stelle nicht vorstellen konnte, »mein Land oder
niemands Land!« war der Spruch, den sie ihm zuschrieben. Die
Regierungsjahre machten ihn einsam, und schließlich zeigte er
ein ungewohnt sprunghaftes Verhalten, das von Manie in
Depression überging, aber selbst unter seinen schlimmsten
Gegnern genoß er den Ruf eines guten Staatsmannes von
tadelloser Anständigkeit wie fast alle Präsidenten Chiles, die im
Gegensatz zu den Caudillos anderer Länder Lateinamerikas die
Regierung ärmer aufgaben, als sie sie angetreten hatten. Er hatte
eine Zukunftsvision, er träumte davon, eine große Nation zu
schaffen, aber er mußte das Ende einer Epoche erleben und den
Verschleiß einer Partei, die allzulange an der Macht gewesen
war. Das Land und die Welt waren in einem Wandel begriffen,
und das Regime der Liberalen war verrottet. Die Präsidenten
bestimmten ihre Nachfolger, und die zivilen und militärischen
Obrigkeiten fälschten die Wahlergebnisse; immer gewann die
Regierungspartei mit wahrlich roher Gewalt: sogar die Toten
stimmten für den offiziellen Kandidaten, Stimmen wurden
gekauft, und den Zweifelnden half man mit Prügeln nach. Dem
Präsidenten gegenüber standen die eiserne Opposition der
Konservativen, einige Gruppen liberaler Dissidenten, der
gesamte Klerus und der größte Teil der Presse. Zum erstenmal
waren die Extreme des politischen Spektrums zu einem einzigen
Ziel verbunden: die Regierung zu stürzen. Täglich
versammelten sich auf der Plaza de Armas Demonstranten der
Opposition, die die berittene Polizei mit Schlägen
auseinandertrieb, und bei der letzten Rundfahrt des Präsidenten
durch die Provinzen mußten die Soldaten ihn mit Säbelhieben
vor der aufgeheizten Menge schützen, die ihn auspfiff und ihm
Schimpfwörter zubrüllte. Solche Beweise der Unzufriedenheit
berührten ihn nicht, als wäre er sich gar nicht bewußt, daß die
Nation im Chaos zu versinken drohte. Nach Severos und
Matilde Pinedas Meinung haßten achtzig Prozent der
Bevölkerung die Regierung, und das Anständigste wäre, wenn
der Präsident zurückträte, denn die Spannung war unerträglich
geworden und konnte jeden Augenblick ausbrechen wie ein
Vulkan. So geschah es denn auch an diesem Januartag 1891, als
die Marine revoltierte und der Kongreß den Präsidenten für
abgesetzt erklärte. »Das wird einen furchtbaren Gege nschlag
auslösen, Tante«, hörte ich Severo sagen. »Ich gehe in den
Norden, um zu kämpfen. Ich bitte Sie, kümmern Sie sich um
Nivea und die Kinder, ich werde es wer weiß wie lange nicht
können…«
»Du hast im Krieg schon ein Bein verloren, Severo, wenn du
das andere auch noch verlierst, kommst du mir etwas kurz vor.«
»Ich habe keine Wahl, in Santiago würden sie mich auch
umbringen.«
»Nun sei nicht melodramatisch, wir sind doch nicht in der
Oper!«
Aber Severo war besser informiert als seine Tante, wie man
schon in wenigen Tagen sah, als der Terror losbrach. Der
Präsident hatte mit der Auflösung des Kongresses reagiert, sich
zum Diktator
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