Portrat in Sepia
die Tür klopfte, wurde
sie mit offenen Armen empfangen. Dieses eine Mal wenigstens
standen Severo und seine Verwandten auf derselben Seite, denn
in der Auseinandersetzung hatten sich die Konservativen mit
einem Teil der Liberalen verbündet. Die Familie del Valle
verbarrikadierte sich in ihren Besitzungen, so weit weg von
Santiago wie möglich, und die jungen Männer zogen gen
Norden, wo sich, unterstützt von der aufständischen Marine, ein
Kontingent von Freiwilligen zusammenschloß. Das
regierungstreue Heer gedachte diesen Haufen rebellierender
Zivilisten in ein paar Tagen niederzumachen, hätte sich
allerdings nie vorgestellt, auf welchen Widerstand es dabei
stoßen würde. Die Marinesoldaten und die Revolutionäre
wandten sich nach Norden, um die Salpetergruben zu erobern,
die größte Einnahmequelle des Landes, wo die Regimenter des
regulären Heeres stationiert waren. Beim ersten ernsthaften
Aufeinandertreffen siegten die Regierungstruppen, und nach der
Schlacht brachten sie die Verwundeten und die Gefangenen um,
wie sie es so oft während des Salpeterkrieges zehn Jahre zuvor
getan hatten. Die Grausamkeit dieses Massakers empörte die
Kongressisten, wie die Aufständischen sich nannten, so sehr,
daß sie beim nächsten Gefecht einen überwältigenden Sieg
davontrugen. Diesmal waren sie es, die die Besiegten
niedermetzelten. Mitte März kontrollierten sie fünf
Nordprovinzen und hatten eine Regierungsjunta gebildet,
während im Süden Präsident Balmaceda von Minute zu Minute
mehr Anhänger verlor. Was an loyalen Truppen im Norden noch
vorhanden war, mußte sich nach Süden zurückziehen, um sich
mit dem Gros des Heeres zu vereinigen; fünfzehntausend Mann
überschritten zu Fuß die Kordilleren, drangen in Bolivien ein,
zogen durch Argentinien und überquerten erneut das Gebirge,
um endlich nach Santiago zu gelangen. Halbtot vor Erschöpfung
kamen sie in der Hauptstadt an, bärtig und zerlumpt, sie waren
Tausende von Kilometern gelaufen durch eine rauhe, zerklüftete
Natur, in höllischer Hitze und ewigem Schnee, hatten sich auf
ihrem Weg mit Lamas und Vikunjas des Hochlandes, mit
Kürbissen und Gürteltieren in den Pampas, mit allerlei
Vogelgetier auf den Gipfeln versorgt. Sie wurden wie Helden
empfangen, solche heroische Leistung hatte man seit den Zeiten
der feurigen spanischen Eroberer nicht gesehen. Aber nicht alle
beteiligten sich an dem Empfang, denn die Opposition war
gewachsen wie eine Lawine, die nichts aufhalten konnte. Unser
Haus blieb verriegelt und verschlossen, und auf Anweisung
meiner Großmutter durfte niemand auch nur die Nase auf die
Straße hinausstecken, aber ich konnte der Neugier nicht
widerstehen und kletterte aufs Dach, um den Vorbeimarsch zu
sehen. Die Durchsuchungen, Verhaftungen, Plünderungen und
Folterungen hielten die Oppositionellen in Atem, es gab keine
Familie, die nicht zerstritten gewesen wäre, niemand blieb frei
von Angst. Die Truppen führten Razzien durch, um junge
Männer auszuheben, tauchten überraschend auf Begräbnissen,
Hochzeiten, in Dörfern und Fabriken auf, um die waffenfähigen
Männer festzunehmen und mit Gewalt abzuführen. Ackerbau
und Industrie wurden gelähmt durch den Mangel an
Arbeitskräften. Die Übermacht der Militärs wurde unerträglich,
und der Präsident begriff, daß er ihnen Zügel anlegen mußte,
aber als er das endlich tun wollte, war es bereits zu spät, die
Soldaten waren zu selbstherrlich geworden, und er fürchtete, sie
würden ihn absetzen, um eine Militärdiktatur zu errichten, die
tausendmal schrecklicher sein würde als die von Godoys
politischer Polizei praktizierte Unterdrückung. »Nichts ist so
gefährlich wie Macht, die keine Strafe zu befürchten braucht«,
warnte uns Nivea. Ich fragte Se-ñorita Matilde Pineda, was der
Unterschied zwischen denen von der Regierung und den
Aufständischen sei, und die Antwort war: Beide kämpften um
ihre Rechtmäßigkeit. Als ich meine Großmutter dasselbe fragte,
antwortete sie, da sei kein Unterschied, alle seie n Gesindel.
Der Terror klopfte an unsere Tür, als die Häscher Don Pedro
Tey verhafteten und in Godoys schreckliche Kerkerzellen
sperrten. Sie hatten ihn in Verdacht, und das mit gutem Grund,
daß er für die Flugblätter gegen die Regierung verantwortlich
sei, die überall kursierten. An einem Abend im Juni, einem
dieser Abende mit lästigem Regen und heimtückischem
Schneegestöber, als wir im Speisezimmer für alle Tage beim
Essen saßen,
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