Postbote Stifter ermittelt 02 - Oberland
gepresst, an welcher sie an die Spüle geschlagen war. Dann war sie hinuntergestiegen und hatte an der Kellertür im Erdgeschoss darauf gewartet, dass Annette wieder heraufkam. Sie war nicht lange im Keller geblieben und hatte versucht, schnell an ihrer Mutter vorbeizugehen, ohne sie eines Blickes zu würdigen oder das Wort an sie zu richten. Daraufhin hatte sie Annette festgehalten, aber diese hatte sich losgerissen. Um ein Haar wäre es erneut zu einer körperlichen Auseinandersetzung gekommen, aber nachdem Gudrun zweimal erleben musste, dass sie dieses nichtsnutzige Stück unterschätzt hatte, wollte sie es nicht darauf anlegen. Sie hatte Annette lediglich um den Kellerschlüssel gebeten, aber ihre Tochter hatte diesen verweigert. Dann hatte sie ansetzen wollen, ihr die finanzielle Situation darzulegen, aber Annette hatte nur den Kopf geschüttelt, die Augen voller Tränen, und hatte das Haus verlassen. Gudrun hatte noch einen Moment gelauscht, doch nur das Aufund Zuklappen der Tür der Einliegerwohnung gehört. Siemusste auch nicht mehr hören, sie wusste, was jetzt geschah. Annette würde eine Flasche Weißwein öffnen. Und später noch eine. Und wenn sie dann nicht schlafen konnte – wie immer –, würde sie noch Valium nehmen. Mit zwei Tabletten würde sie beginnen und die Dosis im Lauf der Nacht erhöhen. Gudrun war beruhigt. Von Annette würde ihr keine Gefahr drohen. Sie würde schweigen. Und leiden.
Der Kanten des Vollkornbrotes war hart, aber Gudrun schaffte es trotzdem, kleine Stücke davon abzubeißen. Ihre Zähne waren bestens in Schuss, sie hatte sich immer an den Rat ihres Vaters gehalten und trockenes Brot geknabbert. Niemals schmiss sie altes Brot weg, es sei denn, es war verschimmelt. Trocken Brot macht Wangen rot. Und kalter Kaffee macht schön. Diese Ratschläge und Sprüche aus der Kindheit hatten sie ihr Leben lang begleitet und ihre Gültigkeit nicht verloren. Ein Indianer kennt keinen Schmerz.
Sie stand auf, räumte ihr Geschirr in die Spüle und ging nach unten. Sie würde es auch allein schaffen. Sie hatte Julius’ Autoschlüssel, und sie hatte einen Führerschein. Dafür brauchte sie Harald nun wirklich nicht.
Das Garagentor klemmte. Seit Volkmars Tod hatte sie es nicht mehr geöffnet, war lediglich durch die Tür, die vom Garten in die Garage führte, hineingegangen. Hier hob sie ihre Gartengeräte auf, Dünger, Insektenspray. Obwohl sie dieses chemische Zeug gar nicht mehr benutzte, es war ihr zu teuer. Sie düngte mit ihrem Kompost, den sie regelmäßig belüftete, einmal im Jahr umschichtete, und ab und an warf sie eine Handvoll Kalk darauf. Den lagerte sie ebenfalls in der Garage. Gudrun überlegte kurz, dass sie der frischen Erde aus der Grubespäter, wenn die Schubkarre wieder frei war, Kompost untermengen sollte. Schließlich konnte sie diese Stelle im Garten nicht ungenutzt lassen, sie würde dort also auch pflanzen können. Sie müsste sich entweder Stauden besorgen oder Grünkohl und Feldsalat darin ziehen, für den Winter. Vielleicht konnte sie sich überwinden und Herrn Hiemer um Ableger seiner Obstbüsche bitten. Himbeeren, Brombeeren, Johannis- und Stachelbeeren.
Während sie mit ihren Gedanken bei ihrem Garten war, ruckelte sie an dem kleinen metallenen Hebel des Garagentors. Endlich löste sich dieser, ließ sich umlegen, und sie zog das Tor nach oben. Ächzend ließ es sich hochschieben, aber Gudrun horchte ängstlich in die Nacht. Das Geräusch war in ihren Ohren überlaut, es würde die gesamte Nachbarschaft alarmieren. Schließlich hatte sie es geschafft und räumte zufrieden in der dunklen Garage ein paar Sachen aus dem Weg, damit Julius’ Auto hier parken konnte. Sie schwitzte und vergaß dabei die Zeit, so dass sie heftig zusammenzuckte, als Harald plötzlich in der Garage stand.
»Warum hast du mich nicht geweckt?«
Er stand direkt hinter ihr, sein Ton war schroff, und Gudrun von Rechlin spürte erstmals, dass sie sich vor ihm fürchtete.
»Du hast geschlafen. Ich schaffe das auch alleine.« Sie ging ein paar Schritte auf Abstand zu ihm.
»Wann bist du das letzte Mal Auto gefahren?«
»Ich habe einen Führerschein. Das reicht doch wohl für den kurzen Weg.«
Gudrun versuchte, die Garage zu verlassen, aber Harald stellte sich ihr in den Weg. Fordernd streckte er ihr eine Hand entgegen.
»Gib mir den Schlüssel. Ich parke den Wagen um.«
Sie zögerte. Sie wurde einfach nicht schlau aus ihm. Gestern und noch heute Nacht hatte er ihr deutlich gezeigt,
Weitere Kostenlose Bücher