PR TB 059 Projekt Kosmopolis
selbständig
entwickelt?"
„Sie stammen teilweise von den Erdenmenschen ab, denn, wie
ihr wißt, hat der Menschengeist schon vor mehr als
fünfzigtausend Jahren die Reife besessen, in den Kosmos
vorzustoßen. Die aber, die nicht von ihm stammen, haben sich
mit unserer Hilfe auf anderen Welten entwickelt."
„Auch die nicht humanoiden Wesen?" fragte Lyra.
„Nein, denn wo wir auf Welten mit halbintelligenten Wesen
trafen, wählten wir stets die Rasse aus, die unserer äußeren
Erscheinung ähnelte. Wir glichen sie durch Genmodulation stärker
an unser Äußeres an, denn wir wollten in der Zukunft mit
unseren Ebenbildern zusammenleben. Einem Naturgesetz zufolge fielen
die nichtgeförderten halbintelligenten Wesen hinter den
Geförderten zurück."
„Wie die Delphine auf der Erde", warf Eddie Burke ein.
„Aber die Wesen auf anderen Welten", fragte Lyra
hartnäckig weiter, „aßen sie ebenfalls zu früh
vom Baum der Erkenntnis?"
Franklin Kendall vermeinte, ein leises Lachen in seinem Bewußtsein
zu vernehmen. Erheiterte sich En-kis Geist an Lyras mythologisch
gefärbter Formulierung?
„Viele, aber nicht alle", beantwortete En-kis Geist die
Frage. „Es gibt überall Ungehorsame, die den Göttermythos
durchschauen und sich für ebenbürtig halten. Wahrscheinlich
muß das so sein, denn dort, wo die Entwicklung ihren geplanten
Lauf nahm, erlosch die Kraft des Geistes im Augenblick seines
Höhepunktes. Sie kehrten freiwillig auf das Niveau glücklicher
Tiere zurück, durchliefen alle Stadien bis zurück zum
Einzeller. Die Nachkommen der Gehorsamen sind weiter verbreitet, als
euer Geist ahnt."
„Also ist Ungehorsam der Katalysator der unbegrenzten
Evolution?" folgerte Kendall.
Darauf allerdings ging En-kis Geist nicht ein. Vielleicht wollte
er das, was er einst auf der Erde bekämpft
hatte, nicht gutheißen. Vielleicht aber vermied er
lediglich, den Menschen klarzumachen, daß dem Ungehorsam
automatisch die Bestrafung zu folgen pflegte, etwas, das sie selbst
wußten.
„Wer bist du eigentlich?" fragte die
Medokyberneti-kerin. „Du sprichst von dir als der Geist von
En-ki. Aber bevor wir ...", sie suchte anscheinend nach dem
treffenden Wort, „ .;. bevor wir den Kontakt zu unserer
materiellen Umwelt verloren, glaubten wir, ein künstliches
Gehirn vor uns zu sehen."
Die Antwort ließ außergewöhnlich lange auf sich
warten. Kendall ahnte, daß ihr Gedankenpartner nach
Formulierungen suchte, die primitiv genug waren, um sie den relativ
unterentwickelten Menschen verständlich zu machen.
„Euer Geist scheint reifer zu sein, als En-kis Geist zuerst
glaubte", kam endlich die Antwort. „Deshalb hoffe ich, daß
ihr annähernd begreift, was ich meine: En-ki ist tot und doch
lebendig. Sein Geist lebt weiter, wenn man den Ausdruck Leben auch
für den immateriellen Bereich gebraucht. Die
Synthozerebral-Symbiose vereinigt seine beiden biologischen Gehirne
mit einem Mitoseplasmagebilde, einer synthobiontischen
Ner-vensubstanz, die sowohl der gesteuerten Zellteilung als auch der
Zellregenerierung fähig war. Eine Zeitlang übernahmen die
Hälften des Gebildes in regelmäßigen Abständen
die Funktionen der organischen Gehirne oder Gehirnhälften, wie
ich aus euren Gedanken entnehme. Ihr nennt es Hälften, obwohl es
ursprünglich als zwei selbständige Gehirne angelegt war.
Könnt ihr mir folgen?"
„Einigermaßen", antwortete Lyra. „Ob wir es
verarbeiten können, ist eine andere Frage."
„Sehr gut! Der Geist muß skeptisch sein, wenn er
urteilt. Nur dann hält er alles für möglich, sogar
seine eigene Unzulänglichkeit. En-kis Geist ist froh über
das., was die Frucht seiner Bemühungen ist. Aber weiter: Die
Übernahmezeiten wurden allmählich immer länger, und
zum Schluß bildeten die biologischen Gehirne nur noch ein
rudimentäres Anhängsel des mitoseplas
matischen Doppelhirns. Der individuelle Geist von En-ki nahm seine
Wohnung in dem künstlichen Gebilde; das biologische Gehirn
erfüllte keine Funktion mehr, verkümmerte und schwand
gänzlich."
„Aber warum?" fragte Kendall. „Warum das alles?
War der ursprüngliche Körper von En-ki nicht im
biologischen Sinn unsterblich? Oder habe ich dich falsch verstanden,
als du von Unsterblichkeit sprachst?"
„Du hast mich richtig verstanden, und du hast deine Frage
selbst beantwortet. En-kis Körper war biologisch unsterblich,
aber er wurde nach vielen Jahrmillionen eurer Zeitrechnung zu... zu
klein - ich finde keinen anderen verständlichen Ausdruck -
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