Pretty - Erkenne dein Gesicht
fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. "Mein Vater ist noch nicht gerächt", sagte er.
"Pech. Gehen wir weiter."
Er runzelte die Stirn. "Kein Frühstück?"
Tally staunte. Eben noch hatte er sich nichts inniger gewünscht als einen wildfremden Mann zu überfallen und zu ermorden, und jetzt sah er aus wie ein Winzling, dem das versprochen Eis weggenommen worden ist.
"Zu spät fürs Frühstück", sagte sie und lud sich den Rucksack auf die Schulter. "Wo geht’s hier zum Rand der Welt?“
***
Sie gingen bis zum frühen Nachmittag schweigend weiter dann zwang Tallys knurrender Magen sie zu einem Halt. Sie machte für sie beide VegiReis, da sie keine große Lust auf den Geschmack von Pseudofleisch hatte.
Andrew war wie ein kleiner Hund, der unbedingt gefallen will, er versuchte mutig, mit Stäbchen zu essen, und riss Witze über seine Ungeschicklichkeit. Aber Tally konnte sich kein Lächeln abringen. Die Kälte, die während seines kleinen Rachefeldzugs in ihre Knochen eingedrungen war, wollte nicht verschwinden.
Natürlich war es nicht ganz fair, sauer auf Andrew zu sein. Er würde Tallys Widerwillen gegen so einen lockeren Umgang mit Mord vermutlich gar nicht verstehen können. Er war mit diesem Konzept der Blutrache aufgewachsen. Es gehörte zu seinem Prä-Rusty-Leben wie das Schlafen in Gruppen oder das Fällen von Bäumen. Andrew sah es nicht als falsch an, ebenso wenig wie er verstehen konnte, wie sehr Tally die Latrine anekelte. Tally war anders als die Dörflinge - das immerhin hatte sich im Laufe der Geschichte der Menschheit geändert. Vielleicht gab es ja doch Hoffnung.
Aber sie hatte keine große Lust, darüber mit Andrew zu sprechen oder ihn auch nur anzulächeln.
"Was liegt denn eigentlich hinter dein Rand der Welt?", fragte sie schließlich.
Er zuckte mit den Schultern. "Nichts.“
"Etwas muss da doch sein.“
"Die Welt hört einfach auf.“
"Warst du schon mal da?“
"Natürlich. Jeder Junge geht hin, in dem Jahr, ehe er ein Mann wird."
Tally runzelte die Stirn - noch so ein Club nur für Jungs. "Und wie sieht es aus? Wie ein breiter Fluss? Oder eine Art Felsen?"
Andrew schüttelte den Kopf. "Nein. Es sieht aus wie der Wald, wie überall sonst. Aber es ist das Ende. Da sind kleine Männer, die niemanden durchlassen."
"Kleine Männer, soso." Tally dachte an die alte Wandkarte in der Bibliothek ihrer Ugly-Schule, wo auf allen leeren Stellen in Schnörkelschrift gestanden hatte: "Hier seynd Drachen". Vielleicht war dieser Rand der Welt einfach nur die Grenzlinie in der mentalen Weltkarte der Dörflinge - wie bei ihrer Rachsucht konnten sie einfach nicht weiter sehen. "Na, für mich wird es nicht das Ende sein."
Er zuckte mit den Schultern. "Du bist eine Gottheit."
"Ja, bin ich. Wie weit ist es noch?"
Er schaute zur Sonne hoch. "Ehe die Nacht kommt, werden wir dort sein."
"Gut." Tally wollte keine weitere Nacht in Andrew Simpson schlafen, wenn sie das irgendwie vermeiden könne.
***
Während der nächsten Stunden sahen sie keine Anzeichen mehr von Eindringlingen, aber sie hatten sich jetzt an das Schweigen gewöhnt. Sogar, nachdem Tally beschlossen hatte, Andrew nicht mehr böse zu sein, merkte sie, wie sie einen Kilometer nach dem anderen hinter sich brachte, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Er schien unter ihrem Schweigen zu leiden, vielleicht lag es aber auch nur daran, dass er am Morgen niemanden hatte umbringen können.
Es war ein durch und durch schlechter Tag.
Der späte Nachmittag ließ die Schatten hinter ihnen schon länger werden, als er sagte: "Jetzt sind wir bald da."
Tally hielt an, um einen Schluck Wasser zu trinken, und suchte mit dem Blick den Horizont ab. Die Gegend kam ihr vor wie jedes andere Stück Wald, das sie seit ihrem Sturz vom Himmel gesehen hatte. Vielleicht standen die Bäume hier etwas weniger dicht, die Lichtungen wurden weiter und es gab in der wachsenden Kälte des Winters kaum Gras. Aber es sah wirklich nicht aus wie etwas, das man sich unter dem Ende der Welt vorstellte.
Andrew ging jetzt langsamer und schien zwischen den Bäumen nach Zeichen zu suchen. Manchmal schaute er zu den Hügeln in der Ferne und wies sie auf Orientierungspunkte hin. Schließlich blieb er stehen und starrte in den Wald.
Tally folgte seinem Blick. Nach einem Moment sah sie etwas von einem Baum hängen. Es sah aus wie eine Puppe, ein Bündel aus Zweigen und getrockneten Blumen, nicht größer als eine Faust. Das Gebilde tanzte in der Brise wie ein Mensch. Tally konnte in
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