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Prickel

Prickel

Titel: Prickel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Juretzka
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mich in meiner Wohnung wähnten, solange konnte ich mich völlig frei bewegen und meiner neuesten Spur nachgehen, ohne die ganze Zeit von einem lästigen Schatten verfolgt zu werden. Trotzdem dachte ich daran, daß es vielleicht gar nicht so verkehrt wäre, mich zu verkleiden.
    Der Bus kam, um mich zum Oberhausener Bahnhof zu bringen. Ich hatte eine bestimmte Verkleidung im Kopf, doch keine Vorstellung, wie ich sie beschaffen sollte. Während ich grübelte, sah ich mich um. Die Leute im Bus waren, wie es normal ist, zum größten Teil schon älteren Kalibers. Wo - das habe ich mich schon oft gefragt - wo, jetzt mal ganz im Ernst, kaufen die eigentlich ihre Klamotten? Wo ist die Boutique, in der die Farben des Regenbogens zu 99% aus Brauntönen bestehen? Wo bekommt man Basthüte ä la Erich Honecker her, geblümte Kleider im Eierwärmer-Schnitt, wo sandfarbene Hosen mit Bügelfalten und graubeigebraunschwarz kleinkarierte Oberhemden mit - halbem Arm? Wo, um alles in der Welt, gibt es diese phantastischen Sandalen? Fast hätte ich angefangen, herumzufragen ('tschuldigung, aber dieses Jackett mit den herrlichen, hängenden Schultern und in diesem leuchtenden Bratwurst-Umbra, wo haben Sie das gekauft und, nur unter uns, wieviel haben Sie dafür gelatzt?), aber es war eh schon nach Acht und wenn, dann brauchte ich die Sachen noch heute. Vor allem auf so eine Hose war ich wild. Großzügig in jeder Hinsicht - allein in der Höhe bis unter die Achseln gehend und in der Länge unten noch mal umgeschlagen -strahlen sie einen lässigen Umgang mit dem Material aus, den höchstens ein Kaftan noch überbieten könnte. Sandalen hatte ich möglicherweise sogar selber noch welche, fiel mir ein, in meinem Fundus unterm Bett. Zwar nur das altertümliche, zehenfreie griechisch-römische Modell und nicht das hochmoderne deutsch-deutsche Design (vorne halbrund, kunstvoll geflochten und nur hintenrum richtig offen bis auf einen sexy Lederriemen mit Schnalle), aber geschickt kombiniert mit den richtigen Socken und der passenden Hose dürften sie trotzdem ihre Wirkung nicht verfehlen.
    Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr verbohrte ich mich in meine Idee. Ich mußte so eine Hose haben, unbedingt! Alles schien plötzlich davon abzuhängen.
    Der Bus hielt, und die meisten Fahrgäste kraxelten ins Freie. Gegenüber war ein Altersheim. Wir zockelten weiter durch eine graue Vorortstraße unter einem grauen, sich ganz allmählich ins nächtliche Dunkel abdimmenden Abendhimmel. Wir stoppten an einer Ampel. Draußen fischte ein Berber in einem Altglascontainer nach Schnapsflaschen, neben ihm stöberten zwei Halbwüchsige in einem Papiercontainer nach Fickheften.
    Jesus, dachte ich, wie nötig muß man es haben, um so weit zu - Mit einem Satz war ich an der Türe. »Lassen Sie mich raus!« rief ich dem Fahrer zu.
    Zwischen den Haltestellen sei das verboten, informierte er mich.
    »Mir platzt die Blase!« schrie ich. >Psssccchhhh!< ging die Türe auf, und ich sprang raus; krempelte mir den Ärmel hoch und machte mich ohne Zögern an die Arbeit.
    »Ey, Bruder«, laberte mich der Berber von der Seite an.
    »Das brauchsse doch nich mehr machen! Hasse noch nix von der Kleiderkammer bei der AWO gehört?«
    Ich wühlte, prüfte, verwarf, wühlte weiter.
    »Da-da kannze die Brocken sogar annprobiern. Unnn Watt nich paßt, gibbse zurück.«
    »Verpiß dich«, sagte ich. Neun von zehn Sachen, die mir in die Finger fielen, sahen beinahe ungetragen aus. Alle, wirklich alle, waren frisch gewaschen.
    »Kumma die Jeans hier«, fuhr der Berber ungerührt fort, »die ich anhab! Sche-schee-viingong! Ausse Kleiderkammer! Mit Knöppe vorne, anstelle vonn Reißverschluß. Hier, siehsse? Knöppe. Die iss echt! Da hat mir einer schon fuffzich Mark für geboten! Fuffzich auffe Kralle!«
    »Verpiß dich«, wiederholte ich, ohne rechte Überzeugung. Staunend zog ich einen letzten Schrei nach dem anderen ans trübe Licht. Lauter letzte Schreie der letzten Jahre.
    »Doch ich sach zu dem, ich sach: Watt soll ich mit deinen fuffzich Mark, unn dann steh ich hier ohne Buxe? Da sackt mich die Schmiere doch sofort ein, wenn ich hier ohne Buxe rumrenn! Da stecken die mich doch gleich innt Loch, sarich, unn watt soll ich dann mit deine fuffzich Mark?«
    »Ha!« entfuhr es mir. Ich hatte schon nicht mehr dran geglaubt. Erdfarben, ordentlich zusammengefaltet, die Bügelfalten messerscharf, der Bund einstellbar; genau das, wonach ich gesucht hatte. Ich preßte sie mir vor den

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