Prickel
praktisch die gesamte Verwandtschaft überlebt, dann kurz vor knapp noch das Testament ändert und alles der Kirche vermacht und schließlich mit über Hundert im Altersheim unter einem Kissen erstickt werden muß, damit der Terror endlich ein Ende hat.
Ein Geräusch tiefster Agonie ging durch den Raum, ein Stöhnen wie aus einem offenen Grab. Scuzzi und ich sahen uns ruckartig an. »Das war es, was ich meinte mit >durch und durch<«, sagte er.
Roselius warf sich auf der Couch hin und her, stieß einen angstvollen, klagenden Ton aus, erwachte mit einem Ruck und setzte sich mit schreckgeweiteten Augen auf.
»Wir sind's nur«, sagte ich.
Er sah mich an und sackte ein bißchen in sich zusammen. Mag sein, er war erleichtert. Mag sein, andere Sorgen hatten ihn bei meinem Anblick eingeholt. »Ich hatte einen gräßlichen Traum«, murmelte er, beinahe entschuldigend. Er war schweißgebadet. Patsy beugte sich mit einem Handtuch über ihn.
»Etwas Tee?« fragte sie und rieb ihm den Kopf und den Nacken ab. »Und ein paar Kekse, vielleicht?« Mit einem Lächeln voll tiefer, ehrlicher Dankbarkeit sah er zu ihr hoch und nickte. Und Patsy flog nur so davon in die Küche.
Also, ich würde das erste Glied vom kleinen Finger meiner linken Hand opfern im Tausch für die Gabe, so zu lächeln. Ich kann das nicht. Bei mir wird irgendwie immer ein Grinsen daraus. Ein bißchen dreist, ein bißchen verschlagen, ein bißchen dämlich, immer schief. Manche Frauen stehen da drauf. Andere nicht. Es braucht ein Lächeln, ein Lächeln wie das von Bernd Roselius, um sie alle weich zu machen, jede einzelne, egalweg. Selbst bei mir löste es etwas aus. Sogar zweierlei. Ich brauchte einen Moment, um dahinterzukommen, doch dann traf es mich, und die Erkenntnis machte mich -grinsen, ja. Einerseits war ich mehr als nur ein bißchen gnatzig darüber, wer hier dankbar angelächelt und wer mit so einem >Uff, er nu wieder< -Blick bedacht wurde. Doch das hakte ich ziemlich rasch ab mit der ganzen Weisheit meines reifen Alters. Denn, machen wir uns nichts vor: Keine Schürze würde mir jemals so gut stehen wie Patsy ihre. Und etwas ganz anderes, wurde mir klar, war sowieso wichtiger als persönliche Empfindlichkeiten. Ich spürte, wie ich so erste Anzeichen zurückkehrenden Lebens bei ihm beobachten durfte, mit überraschend tiefer Zufriedenheit, wie richtig es gewesen war, ihn rauszuholen.
Tee und Gebäck wurden gereicht. Ich kam zu einem Entschluß.
»Bernd«, sagte ich zwischen schlürfenden Schlückchen und knabbernden Bissen, »wir werden uns unterhalten müssen.« Er nickte. Patsy wollte etwas einwenden, doch ich stoppte sie mit der Hand. Bei all meiner Erhabenheit über persönliche Empfindlichkeiten fing sie doch so allmählich an, mir auf den Drissel zu gehen mit ihrer Gluckenhaftigkeit. Ich beugte mich in meinem Sessel vor und sah ihm ins Gesicht. Es war dermaßen bleich, daß er aussah wie geschminkt. Und zum Schluß dann noch mit dem Daumen zwei dicke schwarze Halbmonde unter die Augen geschmiert. Kein Zweifel, er war nicht in der Verfassung für lange Interviews.
»Nur eine Frage«, log ich, um Patsy zuvorzukommen: »Kennst du Dets Nachnamen? Nicken oder Kopfschütteln reicht erstmal.«
Mein Tee war kalt, als das Kopfschütteln kam.
»Weißt du, wo er wohnt?«
Ich hatte ihn ausgetrunken, kalt oder nicht, da kam das zweite Kopfschütteln.
»Gut«, log ich. »Eine letzte Frage. Laß dir Zeit. Kannst du mir ein Lokal, einen Ort nennen, an dem Det sich regelmäßig aufhält? Einen Ort, wo er immer wieder hingeht?«
Here we go again, dachte ich. Das ganze, bleiche Gesicht geriet in Bewegung wie ... Wie der Tee in der Tasse, wenn man draufpustet. So ungefähr. Nur länger. Zeitlich gesehen. Ulrich Wickert hätte Zeit gehabt, einen Vortrag über das betörende Wesen französischen Käses zu halten, bis Roselius endlich den Mund aufmachte. Roman Herzog hätte eine aufrüttelnde Rede darüber halten können, warum das ganze Gejammer nichts nutzt, wenn man kriegt, was man verdient, nachdem man wieder und wieder den gleichen Pfälzer Klotzkopf zum Kanzler gewählt hat, in der Zeit, die es brauchte, bis Bernd Roselius den Mund aufmachte und mit der ersten, der allerersten brauchbaren Information herausrückte, seit ich das erste Mal eine Frage an ihn gerichtet hatte.
Im Nieselregen stapfte ich zur Bushaltestelle. Das Wetter war umgeschlagen, wie immer, wenn ich ohne Auto unterwegs bin. Doch solange die Bullen daheim die Carina bewachten und
Weitere Kostenlose Bücher