Priester des Blutes
Handrücken entlangkrabbelte.
»Er sorgte für mich, so wie ich für dich sorge«, sagte sie. »Einst war er der König eines Stammes von Menschen, die nicht mehr existieren - sie wurden niedergemetzelt, wie es noch mit so vielen Menschen geschehen wird. Wie du war er als Feind in dieses Land
gekommen. Und wie sie es bei dir und mir tat, trank die Python von ihm und hauchte ihm Leben ein. Und wie es dir und mir eines Tages zustoßen wird, liegt er nun im Staub und wird sich nie mehr daraus erheben.«
»Wir sind unsterblich«, sagte ich. »Wie …« Doch ich konnte die Worte nicht bilden, um die Frage zu formulieren, die ich fürchtete.
»Während wir noch jung und stark sind, sind wir nicht besser als Wölfe und Schakale. Wenn die Kraft nach lässt und die Jahre vergehen, entsteht die Hölle in diesem Fleisch. Für uns gibt es keinen Tod. Er wird uns an der Schwelle versagt. Dies«, sagte sie, indem sie sich wieder umdrehte, um die Tropfen roten Schweißes abzuwischen, die sich auf seiner zerrissenen Stirn gebildet hatten, »dies ist unser Schicksal, wenn wir nicht durch Menschen vernichtet werden. Es ist die Auslöschung. Unser Leben dauert ewig, gleichgültig, ob unser Geist weiterhin arbeitet oder nicht. Wir werden schwach und gebrechlich. Bei einigen geschieht es sehr schnell und sie zerfallen bald zu Staub. Bei anderen, wie bei Balaam, wird es zu einem langsamen Vorgang.«
»Hat er viele Leben lang gelebt?«
»Nicht sehr viele«, antwortete sie. »Wir leben länger als die Menschen. Aber wir leben nicht ewig so, wie wir jetzt sind.«
Ihre Augen glänzten, als sie ihn anblickte. Sie kauerte sich neben ihn und drückte ihre Hand in dieseine. »Hier, halte meine Hand«, sagte sie zu mir, indem sie mir ihre freie Hand darbot. Ich nahm sie in die meine, und sofort empfand ich einen Schrecken. Es fühlte sich an, als wäre meine Hand, die sie hielt, flüssig und flösse in Balaam hinein, der dort lag und kaum atmete. Ich spürte eine Kälte, die mich zum Erzittern brachte, und ein Gefühl der Bewegung, als würde ich die Haut einer schlafenden Schlange berühren, die diese gerade abstreifte.
Das traf mich auf eine Weise ins Herz, wie es bei keinem
menschlichen Erlebnis je der Fall gewesen war, und mehr als alles, was ich in meiner Zeit der Unsterblichkeit erlebt hatte. Ja, ich hatte um meine Mutter, um meinen Bruder, um meinen Großvater und um den Verlust von Alienora geweint. Doch das, was ich nun spürte, und was Kiya von diesem Vampyr an mich weitergab, indem sie seine und meine Hand fester packte, war nicht das Entsetzen vor der Auslöschung des vampyrischen Daseins, sondern der Kummer um eine gewaltige Verminderung des Lichtes. Es fühlte sich an, als hätte der Strom zwischen uns dreien durch die Schwächung etwas aus meinem Inneren hervorgeholt, das in meiner früheren Existenz geschlummert hatte. Ich verstand die Traurigkeit auf eine Weise, die nicht zerstörerisch war und nichts mit Selbsthass oder Eitelkeit zu tun hatte, wie es bei meinen Gefühlen als Sterblicher der Fall gewesen war.
In diesem Strom waren wir eins. Sein Verlust, der Verlust der Begabungen dieses Wesens, seiner Kraft, seiner Erinnerung, alles dies war ebenfalls mein Verlust, und auch der von Kiya. Und obwohl ich damals nicht verstand, warum man Ungeheuer wie uns selbst bedauern sollte, so empfand ich doch eine große Trauer um den Verlust dieses Unsterblichen, um den Schrecken, den er erlebte. Denn ohne es aus Kiyas Munde zu hören, wusste ich es doch. Ich wusste es.
Die Auslöschung war schlimmer als die Qualen von tausend Toden. Es bedeutete, bis in alle Ewigkeit zu existieren, in einen Käfig all dessen eingesperrt, das verfallen und sich in Staub verwandeln würde.
»Menschen reisen, wenn ihr Fleisch ihnen den Dienst versagt«, sagte sie sanft. »Ihre Haut ist ihr Mantel, und wenn sie diesen ablegen, reisen ihre Seelen über die Schwelle. Wir können unser Fleisch nicht verlassen, wenn wir erst auferstanden sind. Fleisch, Knochen, Blut - der Körper, das bedeutet unseren Himmel und unsere Hölle.«
Ich er lebte seine Jugend und seine Kindheit, seine Jahre als Vampyr, sowohl die Dunkelheit als auch das Licht seiner Existenz, den Zerfall des Erinnerungsgefüges ebenso wie den Zerfall der Muskeln.
Dies ist der Fluch des Vampyrs: das Verkümmern des Leibes, wie es sich schließlich einstellt, wenn er von der Quelle des Stammes abgeschnitten ist. Abgeschnitten, wie wir es in der Friedhofsstadt vom Schoß unserer Existenz
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