Priester des Blutes
vielleicht sogar der Schlimmste von ihnen. Ich metzelte meine eigene Familie nieder, um mir das zu nehmen, was rechtmäßig mir gehörte. Diese Zitadelle. Ja«, er lachte, »dies war die Stadt meines Vaters, die er einnahm, als diese Armee aus fernen Ländern kam. Sie wurde zu der meinigen, als ich ihn ermordete. Ich war der letzte König hier - und nun bin ich der Sklave seiner Grabstätte.«
»Warum denkt Kiya, ich sei dieser Maz-Sherah?«, fragte ich.
Er schenkte mir einen Blick voller Verachtung. »Sie ist alt. Sehr bald wird sie ihre letzten Tage erleben. Vielleicht werde auch ich einen starken Glauben an den Maz-Sherah entwickeln, wenn mir die Aus löschung bevorsteht. Vielleicht glauben wir alle an uralte Legenden, wenn wir nichts anderes haben, das uns Trost spen det.«
Nach der nächtlichen Jagd setzte ich mich zu Ewen, der leblos neben mir lag. Als ich sein dichtes dunkles Haar mit meinen Fingern
kämmte, erinnerte ich mich an unser Heimatland, an das erste Mal, dass ich ihn am Hofe des Barons sah, mit seinem schlecht sitzenden Kittel und seinem herzlichen Lächeln. An die Arbeitstage in seiner Nähe und daran, dass ich in ihm jemanden sah, der meines Schutzes bedurfte. An unsere wach sende Freundschaft, als ich zusah, wie er auf dem Schlachtfeld vom Knaben zum Manne wurde. Ich befürchtete auch, dass er nicht von der Schwelle zurückkehren, sondern seine Reise fortsetzen würde. In mir kam ein Gefühl der Hilflosigkeit auf, als ich neben seinem Leichnam saß, und auch eines der Selbstsucht. Ich wollte einfach nicht mit diesen Vampyren allein gelassen werden. Ich wünschte mir, dass einer meiner Freunde, einer meiner Landsleute bei mir war. Jemand, der es verstand, wenn ich ihm einen Seitenblick zuwarf. Jemand, der mich an all das erinnerte, was ich in meinen Jahren des Lebens und des Todes geliebt und verloren hatte.
In den frühen Morgenstunden, bevor die Sonne aufging, erschien Kiya und setzte sich neben mich, indem sie Ewen an seinem Hals und seiner Schulter berührte, als wollte sie prüfen, ob er ins Leben zurückgekehrt war. Doch es gab kein Lebenszeichen.
»Wir verlieren einen großen Teil davon«, meinte sie. In ihren dunklen Augen flackerte Weisheit auf, als sie mich ansah.
»Wovon?«
»Liebe. Sorge um sterbliches Leben.« Sie lächelte. »Wie du ihn hältst, als ob er dein Bruder wäre. Ich hatte ein Kind, als ich zum ersten Mal starb, und ich wollte nicht, dass es zu einem Mitglied unseres Stammes würde. Aber ich sorgte mich noch immer um meine Tochter und hielt an ihr fest. Jedoch vergisst man sehr bald. Es können Jahre vergehen. Bei mir ist es so lange her, dass ich das Verstreichen der Zeit nicht auf die gleiche Art erlebe, wie ich es einst tat. Man beginnt, die Vergangenheit als den Traum eines anderen Menschen zu betrachten. Zuerst dachte ich, ich könnte mich nicht zu einem Scheusal entwickeln, das das Blut der Unschuldigen
trinkt. Doch sehr bald fand ich heraus, dass der Trieb mächtiger ist als der Widerstand.«
»Und deine Tochter?«
»Ich hatte vergessen, wer sie war, und er kannte sie zu der Zeit, als sie sechzehn Jahre alt wurde, nicht wieder. Sie war zu einer reizenden jungen Dame herangewachsen und lebte mit ihren Onkeln in der Wüste. Doch als wir über sie her fielen, packte ich sie als Erste und trank das reichhaltige Blut, das ich ihr bei ihrer Geburt geschenkt hatte. Ich kämpfte mit einem anderen um den letzten Schluck ihres Lebenssaftes, und erst, als ich den letzten Rest davon getrunken hatte, erkannte ich das Gesicht meines Kindes in dem toten Mädchen, das in meinen Armen lag, wieder. Und selbst jetzt, da ich es dir er zähle, leide ich nicht an Schuldgefühlen, dies getan zu haben. Sie war meine Tochter, doch ich schickte sie unversehrt zur Schwelle. Ja, ich schmeckte ihre Furcht. Aber es dauerte nicht länger als eine Stunde oder zwei, bevor sie die Schwelle überquerte - und in jenem anderen Land, aus dem niemand ohne den Heiligen Kuss zu rück kehren kann, wird sie die Freu de finden, die sie an diesem Ort niemals erleben konnte.«
Ich dachte einen Augenblick lang über Kiyas Worte nach, doch ihre Erzählungen führten dazu, dass ich mehr über die Rätsel wissen wollte, die sich mir in Visionen und Träumen offenbart hatten. »Erzähle mir mehr über die Stadt der Alkemarerinnen.«
Kiyas Gesicht verdüsterte sich. »Sie ist unser verlorenes Heimatland. Die Legende besagt, dass unsere Art dort über große Macht verfügte. In ihr steht der große
Weitere Kostenlose Bücher