Principia
schmutziger Schnee auf den Boden oder schoss als wabernde Wolke in die Luft. Caroline und Eliza griffen sofort nach ihren Kopftüchern und bedeckten ihre Frisur, damit sie nicht von groben Hanffasern ruiniert wurde. Bald darauf hatten beide Damen die Enden des Tuches außerdem über Mund und Nase gezogen, denn die Luft war mit einem Nebel aus winzigen Faserteilchen gesättigt, die man zwar nicht sah, aber ganz gewiss spürte, wenn sie sich einem in Hals oder Augen setzten.
Außer mit Klötzen war die Halle noch mit Prangern ausgestattet. Diese hatte man in regelmäßigen Abständen an den Wänden aufgestellt. Jeder bestand aus zwei Planken, die so in einen senkrechten Rahmen eingepasst waren, dass sie sich hinauf- und hinunterschieben und mittels geschnitzter Scherbolzen in jeweils unterschiedlichen Höhen festmachen ließen. In die Kanten dieser Planken hatte man in wechselndem Abstand einander ergänzende, halbmondförmige Einkerbungen von verschiedener Größe eingeschnitten, sodass man Handgelenke und Hälse verschiedener Dicke jeweils an der Stelle und in der Höhe fixieren konnte, die den Gefangenen am unangenehmsten war und dem zuständigen Aufseher den größten Kitzel bereitete. Die meisten Pranger waren leer – was auf eine gut geführte Werkstatt hindeutete -, doch drei wurden von Frauen mit hoch über den Kopf gestreckten Händen eingenommen. Die Rückseite ihrer Kleider war schwarz von sickerndem und gerinnendem Blut.
»Nun wisst Ihr alles, was man über die Herstellung von Hanf und die Hebung der Sittlichkeit weiß«, bemerkte Daniel, nachdem sie rasch durch einen Nebenausgang hinausgeschlüpft und in ein Treppenhaus gelangt waren, in dem man hören und atmen konnte. Man legte eine Pause ein, damit sich jeder die Fasern von der Kleidung wischen und aus den Augen blinzeln konnte. »Mich erstaunt«, überlegte Daniel, »dass Männer sich ansehen können, was wir gerade gesehen haben – und am nächsten Tag dennoch ein Bordell aufsuchen. Ich persönlich kann mir keinen Anblick vorstellen, der weniger dazu angetan wäre, liebesbrünstige Gefühle im Allgemeinen oder ein Interesse an Prostituierten im Besonderen zu erregen -«, doch Johann räusperte sich angelegentlich, und Eliza schoss funkelnde Blicke. Caroline schien das Thema durchaus interessant zu finden, war jedoch überstimmt worden. »Nun gut, dann gehen wir jetzt zur Wohnung von Miss Hannah Spates. Bitte achtet darauf, wo ihr hintretet«, fügte Daniel unnötigerweise hinzu, denn überall verstreut lagen deutlich sichtbar Kothaufen.
Bridewell Palace war insofern typisch englisch, als man – von dem historischen Prozess, der es so hatte enden lassen, einmal abgesehen – überhaupt nicht schlau daraus wurde. Wie die Botanik konnte man es sich zwar einprägen, aber nicht verstehen. Die Besucher hatten sofort die Orientierung verloren, und es hätte an dieser Stelle des Rundgangs niemanden gewundert, wenn Daniel eine Tür aufgerissen hätte und dahinter ein Geheimtunnel unter der Themse oder der Hintereingang des Infernos zum Vorschein gekommen wäre. Stattdessen aber fanden sie sich im obersten Stockwerk irgendeines Flügels, Anbaus oder Nebengebäudes wieder. Hier wohnten und arbeiteten Hannah Spates und ihre Kolleginnen in einem großen Raum unter den schwer an ihrer Last tragenden Balken eines alten Schieferdachs. Im Winter musste es hier ebenso kalt sein, wie es nun drückend war; aber es war trocken, stank nicht, bekam durch ein paar Fenster Licht und war nicht mit blutig geschlagenen Frauen dekoriert. Die Balken waren steil geneigt, als versuchten sie, die Last der steinernen Schuppen abzuschütteln. Das verlieh dem Raum das Gepräge einer gotischen Kirche, deren Erbauer vom Schwarzen Tod dahingerafft worden waren, ehe sie sie mit Bänken und einer Kanzel hatten ausstatten können.
Wenigstens aber gab es eine Orgel – jedenfalls glaubten die Besucher das zunächst. Der größte Einzelgegenstand im Raum war ein Kasten von der Größe eines Vagabunden-Schuppens, aber sehr viel feiner gearbeitet, aus Eichenplanken, die fachmännisch verfugt und an den Ecken mit Teer und Werg kalfatert waren. An einer Seite befand sich eine Reihe von vier großen Blasebälgen mit einem Holzgeländer, das sie um einige Fuß überragte. An diesem Geländer hielten sich zwei Frauen fest. Jede bediente mit ihrem Körpergewicht zwei Blasebälge, einen unter jedem Fuß; diese hatte man so eingerichtet, dass der eine Fuß im Niedertreten Luft in die große
Weitere Kostenlose Bücher