Principia
Rettungsunternehmen? Eine diplomatische Mission? Waren die Passagiere auf der Schaluppe ausländische Spione, flüchtende Schmuggler oder die künftigen Eigner und Admirale der Royal Navy? Eine schnelle Entscheidung war in dieser Situation nicht angebracht.
Und dann wurde es noch komplizierter. Denn kaum hatte die Sophia ihr wahres Gesicht gezeigt, hatte eins der großen Schiffe, die vom Meer her in die Themse einfuhren, seinen Kurs geändert und war seitdem immer größer geworden: eine gestaffelte Festungsmauer aus weißem Segeltuch, die sich von Minute zu Minute weiter ausdehnte und höher auftürmte. Dieses Ding verhielt sich zu der Brigg wie ein Bär zu einer Bulldogge. Es hatte drei Masten gegenüber den zweien der Brigg und mehr Untersegel an jedem Mast und mehr Deckfläche für Fracht oder Geschütze – aber hauptsächlich Geschütze, denn es war (wie schnell klar wurde) ein Ostindienfahrer und somit kaum von einem Kriegsschiff zu unterscheiden. Sein Deplacement war mindestens dreimal so groß wie das der Brigg. Weiter themseaufwärts wäre seine Größe eher von Nachteil gewesen, aber hier gab es genug Platz zum Manövrieren, zumindest wenn man exakte Karten hatte und sie auch zu benutzen verstand. Dieser Ostindienfahrer schien unsichtbare Untiefen mit genau derselben Sicherheit zu umschiffen wie die Brigg. Und das ungeachtet der Tatsache, dass er keineswegs ein englisches noch ein holländisches Schiff war, sondern – wie deutlich wurde, als er schließlich seine Flagge hisste -
» Mirabile dictu «, sagte Johann, der sich mit beiden Fäusten ein Fernrohr ans Auge drückte. »Wie groß sind die Chancen, dass zwei Hannover’sche Schiffe sich treffen?«
»Wie groß sind die Chancen, dass es überhaupt zwei Hannover’sche Schiffe gibt?«, erwiderte Caroline. Sie entriss Johann das Fernglas und bewunderte eine geschlagene Minute lang die Galionsfigur des Ostindienfahrers: eine barbusige Pallas, bereit, sich mit ihrer schlangenköpfigen Ägis ihren Weg durchs Meer zu bahnen.
»Meine Mutter hat einmal in ein Schiff investiert«, sagte Johann, »oder vielmehr Sophie, und Mutter hat die Modalitäten geregelt.«
»Lass mich den Namen des Schiffs erraten. Athena? Pallas? Minerva? «
»Das war’s. Minerva . Ich dachte allerdings, sie wäre in Boston.«
»War sie vielleicht auch«, sagte Caroline. »Aber jetzt ist sie hier.«
Orneys Werft, Rotherhithe
31. JULI 1714
»Sie ist eine durchaus hübsche junge Dame, gefasst und höflich, selbst als sie von einer Bootsladung philippinischer und indischer Schwabbergasten auf eine recht derbe Weise von einer Sandbank heruntergeholt wurde. Aber ich war doch außerordentlich erleichtert, als sie mein Schiff dann wieder verließ.«
Otto van Hoek hatte die Haut und das Gemüt eines Hundertjährigen, aber die Vitalität von einem, der näher an dreißig war. Anstelle seiner rechten Hand hatte er einen Stahlhaken, und wenn er abgelenkt oder nervös war, schlug er damit nach allen möglichen Dingen. Schänken, Schlafkammern und Kajüten, die von van Hoek aufgesucht wurden, wiesen auffällige Häufungen von Kratzern auf Tischplatten und an Wänden auf, als hätte eine Riesenkatze dort ihre Krallen geschärft. Jetzt kerbte er den Deckel einer Holzkiste ein, die vor kurzem von der Minerva abgeladen worden war. Sie lag auf dem Pier von Mr. Orneys Werft in Rotherhithe. Die Anschrift darauf lautete:
DR. DAN’L WATERHOUSE
Hof der Technologischen Wissenschaften
CLERKENWELL
LONDON
Die Bretter des Deckels waren bereits halb durchgeritzt, denn van Hoek hielt seinen Haken gut geschärft, und für ihn war es ein langer, angstvoller Vormittag gewesen. Die Minerva lag im Trockendock: einem Graben, der aus der Uferböschung herausgeschnitten und mit Türen aus ganzen Baumstämmen von ihr abgetrennt worden war. Obwohl Letztere bedenklich knarrten und kräftig leckten, hielten sie das Flusswasser zurück. Die Minerva wurde von vielen Balken gestützt, die in den schlammigen, von Lachen übersäten Boden des Trockendocks gerammt worden waren. Ihr Rumpf erinnerte Daniel an eine Kartoffel, die zu lange im Keller gelegen und viele Keime ausgebildet hatte, denn man konnte sich gut vorstellen, dass das Schiff unter der Wasserlinie hundert knochige Beine ausgestreckt hatte, um damit aus dem Fluss hinauszukriechen. Er hatte vermutet, dass es ein sich über Wochen hinziehendes gewaltiges Unterfangen sein musste, ein so großes Schiff wie die Minerva ins Trockendock zu legen, und gehofft, die
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