Projekt Armageddon
Er hat es genossen, uns leiden zu sehen, altern zu sehen.« Er wendet sich ab. »Was glaubst du, warum ich ihn auf den Felsen habe binden lassen?«
Das Riesenhaupt blinzelt sie träge an. »Du willst davon trinken? Liebchen, du sähest traurig aus mit nur einem Auge. Was möchtest du mir stattdessen geben? Einen Arm? Dein letztgeborenes Kind?« Der Kopf lacht röchelnd, hustend.
Eine Frauenstimme lacht mit ihm. Eine Hand kratzt liebevoll über seine Nase, seine Wange, reibt sein Ohr.
»Ah, danke. Das tut so gut.« Das Riesenhaupt beginnt einzunicken. Erwacht wieder. »Nun trink schon. Ich kann dich ja kaum daran hindern.« Schläft ein.
Der Trank, so bitter, so kalt. Streckt sie nieder aufs kühle Moos. Gelähmt, stumm. Vor ihren starren Augen bricht die Welt auseinander, zerfällt zu Staub. Nichtraum. Nichtzeit. Wo ist oben, wo unten? Wo ist ihr Körper? Angst, sich steigernd. Panik. Blut rast durch einen Körper, der verloren ging, klopft in Schläfen, die nicht mehr existieren, schmeckt metallisch auf einer Zunge, die nichts ist als ein Strom sich verändernder Quanten.
Nichtexistenz. Erinnerung. Angst.
Ein schwarzer Engel schwebt an ihrer Seite. Sie spürt die Neugier, die das unbewegte Gesicht, schön wie aus Stein gemeißelt, durchglüht. Wer sie ist. Woher sie kommt. Ob sie da ist, um seine Einsamkeit zu lindern. Den Schmerz, ohne Gefährten zu sein. Keine Stimme, keine Berührung, eine Ewigkeit ohne die Existenz eines anderen Wesens an seiner Seite.
Berührung. Die Hand, die Finger, fraktale Ausläufer des Raums. Seine Schwingen, schwarz und blendend hell, unlösbar mit dem Nichtraum verbunden, verschmolzen. Gefesselt seit Ewigkeiten und für die Ewigkeit. Wissend.
Schulung. Nullraum-Mathematik. Quantenmetaphysik. Beherrschen der Energieströme. Programmieren von Fraktalen. Strings vierter, fünfter und sechster Ordnung stellen kein Problem dar. Das Gehirn arbeitet wie ein Supercomputer in dieser Nichtumgebung. Sie durchquert Calabi-Yau-Räume so selbstverständlich wie ein Zimmer ihrer Wohnung. Luzifer ist der Herr über diese Welt der Quantengitter, Matrixräume, Nebelfelder aus reinen Elektronenwolken und Photonenströmungen. Er ist der Herr und doch ein Gefangener.
Sie entschließt sich, ihn zu befreien. Sie hasst es von jeher, wenn fühlende, denkende Existenzen eingekerkert, gefesselt, gequält, gefoltert werden.
Sie erwacht unter der Krone des Weltenbaums. Lächelt empor zu Fraxinus Axis Mundi. Schwester und Mutter. Achse der Welt. Namensgeberin. Ash. Esche.
Sie erhebt sich, sucht und findet Loki, führt ihn in den Nullraum. Er kotzt sich das Herz aus dem Leib, aber er lernt, dort zu navigieren. Tiefere Kenntnisse kann und will er sich nicht aneignen, das bleibt ihr Feld, ihres und das ihres Lehrers.
Luzifer.
Nichtexistenz. Erkennen.
Sie dreht sich träge im Quantenstrom. Scannt ihren Energiekörper und ihre Quantenmatrix. Alles ist vollständig, aber es fühlt sich verschoben an. Der Speer hat sie annulliert und damit hat sie ihre Verbindung zur Welt der Materie verloren. Sie denkt einen Fluch und öffnet ihre Augen dritter und vierter Ordnung, denn die Sinnesorgane der ersten und zweiten Ebene hat sie mit ihrem endgültigen Tod verloren.
Der Anblick des Nullraums trifft sie unvorbereitet. Sie verliert das Bewusstsein.
Nichtexistenz. Volles Bewusstsein.
Sie fühlt Luzifers Anwesenheit. Er ist immer bei ihr, wenn sie den Nullraum betritt. Er ist der Nullraum.
»Ich bin annulliert worden«, sagt sie.
»Ich sehe es.« Er klingt amüsiert.
»Das ist nicht komisch. Da unten geht gerade alles schief, was nur schiefgehen kann.« Ash denkt an Loki und Odin, Macnamara und Dellinger. »Was können wir jetzt tun, Luzifer?«
Sie spürt, wie er kurz verschwindet und wieder auftaucht. »Ich an deiner Stelle würde die Augen aufmachen.«
»Habe ich versucht. Hat mir nicht gefallen.«
Seine Hand berührt sie. »Du hast alles vergessen, was ich dich gelehrt habe«, sagt er mit sanftem Vorwurf. »Deine Matrix ist vollkommen verschoben. Schaffst du es selbst, sie in die richtige Schwingung zu versetzen?«
Ash konzentriert sich. Fühlt den vieldimensionalen Raum, von dem sie jetzt ein Teil ist – genau wie Luzifer. Sie spürt die sich reibenden Punkte, die zerrenden, quälend verschobenen Kräfte und Linien. Ihre Matrix hat sich zwischen zwei Lambdaknoten verkantet, und eine ihrer Energiebahnen kreuzt einen komplexen String zehnter Ordnung. Kein Wunder, dass sie sich so beschissen fühlt.
Mit
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