Prophetengift: Roman
Gedenkgottesdienstes.
Amber würde leider nicht daran teilnehmen können.
Olivier hingegen sagte sein Erscheinen fest zu. Dann begann er eine besonders aufwühlende Lobrede auf den Toten zu entwerfen, denn er sagte sich, nirgendwo sonst würde er so finster entschlossene, zornige Rekruten finden wie auf der Beerdigung eines Mannes, der dem Wort Gottes so fanatisch ergeben gewesen war wie Dyson.
Unterdessen förderten die Ermittlungen gegen Kitty und ihren Anteil an dem Bootsunglück immer mehr Belastendes zu Tage. Ihre verschiedenen IP-Adressen hatten sie verraten, und die Nachrichten von »Hilda« mit den eingebauten absichtlichen Rechtschreibfehlern belegten eindeutig ihre Absicht, Chuck und Sebastian in Gefahr zu bringen. Ein besonders wichtiger christlicher Blogger schrieb:
»Kitty Blacks kalkulierte Verwendung von Grundschulgrammatik und wilder Rechtschreibung sowie der Umstand, dass sie sich als mittellose, verlassene Mutter von neun Kindern ausgab, zeigen überdeutlich, wie Ms Black Christen sieht: als in Armut lebende Hinterwäldler ohne jeden gesunden Menschenverstand oder Wissen um Empfängnisverhütung. Ihre Absicht, sich Zugang zu einer
Gruppe frommer Christen zu verschaffen, indem sie sich als wirr daherschwafelnde, feindselige, ungebildete Idiotin ausgab, kommt dem Versuch eines Ku-Klux-Klan-Mitgliedes gleich, ein Treffen schwarzer Bürgerrechtler zu infiltrieren, indem er sich schwarze Schminke ins Gesicht klatscht und Stepptanzschuhe anzieht.«
Kittys Anwaltsteam strebte einen strafmildernden Deal mit der Begründung an, die Mandantin sei nicht vorbestraft und habe ihr Leben der Hilfe für andere gewidmet. Zudem wollten weder Chuck noch Sebastian Anzeige erstatten. Es wurde erwartet, dass es auf eine Bewährungsstrafe und gemeinnützige Arbeit hinauslief, insbesondere da ja Amber den Motorkreuzer gesteuert hatte und nicht Kitty.
Die bedauernswerte entstellte Amber hatte eine Anklage wegen fahrlässiger Tötung – wegen Dysons Tod – sowie eine Anklage wegen Verschwörung zu schwerer Körperverletzung zu erwarten. Ihre Verurteilung galt als sicher und Gerüchten zufolge war sie suizidgefährdet.
Das belastete Sebastian mehr, als irgendjemand ahnte.
Er musste immer wieder an den Abend vor drei Jahren denken, den er nach einer Versammlung mit Amber verbracht hatte. Zwar sagte er sich, dass er damals wahrscheinlich zu jung gewesen war, um verantwortungsbewusst zu handeln, aber trotzdem: Vor genau solchen Kalamitäten hatte er Kitty zu warnen versucht, als er zu ihr sagte, dass unsere bösen Taten Wiedergutmachung fordern, weil sie uns sonst abhängen, bis die Schuld beglichen ist.
Er musste also eine Möglichkeit finden, seine Schuld zu begleichen – ganz gleich, was Amber ihm angetan haben mochte. Aber er konnte sich zu keinem Entschluss durchringen. Schließlich gab es da Komplikationen ...
Mit der Zivilklage, die Lukes Angehörige anzustrengen drohten, lief es ebenfalls schlecht. Kittys Anwälte hatten zwei Angebote
für eine Entschädigungszahlung vorgelegt, die die Familie zurückgewiesen hatte, und die negativen Presseberichte nach dem Vorfall in der San Francisco Bay über Kittys Verstrickung darin machten die Behauptung nur glaubwürdiger, sie habe psychologisch benachteiligte Personen genötigt, um sich finanziell zu bereichern – in Lukes Fall dessen liebende Eltern, die durch die ernste Erkrankung ihres Sohnes (die Anwälte vermieden die Worte »Krebs im Endstadium«) ernsthaft aus dem Gleichgewicht geraten waren.
Reed und Sebastian waren mittlerweile unzertrennlich. Reed hatte angefangen, jeden Tag nach der Uni eine Stunde bei Sebastian vorbeizuschauen, der Hilfe und Lachen dringend nötig hatte. Diese gemütlichen Nachmittage mündeten häufig in einen Restaurantbesuch am Freitagabend, an Samstagnachmittagen schauten sie sich im Penthouse einen Film an, und am Sonntagmorgen beobachteten sie Leute auf der Third Street Promenade – Sebastian in dichten Schichten von Herbstkleidung, seine Vintage-Schildplatt-Sonnenbrille von Tart Arnel fest auf der Nase – oder besuchten Ellie in Ballena Beach. Und während der ganzen Zeit hielt Reed ihre Gefühle für Sebastian auf Sparflamme, weil sie nicht bereit war, erneut ihr Herz zu riskieren. Aber die gemeinsam verbrachten Stunden ließen die Beziehung zumindest jeden Tag intensiver werden, und Reed wusste, dass die tiefe Zuneigung, die sie ihm gegenüber empfand, erwidert wurde.
Der Herbst wich allmählich dem Winter. Jeden
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