Prophetengift: Roman
Stadt.«
32
Samstagabend
Sebastian blickte auf seine Armbanduhr. Es war nach fünf und von Reed war weit und breit nichts zu sehen.
Besorgt begann er auf dem kleinen Deck des Bootes auf und ab zu gehen, wodurch es an seinem Liegeplatz sachte gegen den Anlegesteg schlug. Die haben Reed gestern Abend mit mir zusammen gesehen, dachte er, während der Schiffsrumpf sanft hin und her schaukelte. Warum habe ich sie bloß allein gelassen? Wieso habe ich nicht Coby und Ellie angerufen und sie gebeten, Reed abzuholen, als ich sie vorhin hier abgesetzt habe?
Abermals ließ er den Blick über die Straßen schweifen, die von den angrenzenden Hügeln zum Yachthafen hinabführten. Doch in dem schwindenden Licht sah er lediglich Paare und Familien, die entweder auf die Hafenrestaurants zusteuerten oder über den öffentlichen Parkplatz zu ihren langweiligen Mietwagen schlenderten.
Er zog sein iPhone aus der Tasche und schaute nach, ob sie angerufen hatte, aber er hatte keine neuen Nachrichten – nicht mal von Kitty.
Wo steckt Reed?
Endlich sah er sie um die Ecke eines Gebäudes biegen – sie trug ein türkisfarbenes, trägerloses Kleid, das ihre Kurven und Rundungen verführerisch betonte. Er verfolgte, wie sie von Puppen- zu menschlicher Größe wuchs: In einer Hand trug sie
ihre Handtasche, in der anderen einen Pullover und die langen schwarzen Haare wallten wie ein Schleier hinter ihren zarten, kakaobraunen Schultern her. Sie schritt leicht aus – als wäre sie fast schwerelos –, und ihre schwingenden Hüften erinnerten ihn an ein Hula-Mädchen, das einen schläfrigen Tanz aufführt.
Mann, sie sieht fantastisch aus.
Sie sah ihn und winkte ihm zur Begrüßung zu. Und als er ihr Winken erwiderte, spürte Sebastian nicht etwa die vertraute Regung unterhalb der Gürtellinie, sondern eine weniger vertraute Atemlosigkeit in der Brustgegend.
Er sprang über die Reling und marschierte los, um ihr entgegenzugehen.
Vor einer weißen Luxusyacht, die für ihren schmalen Liegeplatz viel zu groß war, trafen sie sich.
»Ich freue mich ja so, dass du gekommen bist.« Er fasste ihre Hand und beugte sich vor, um sie zu küssen.
»Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe«, sagte Reed und hielt ihm ihre Wange hin. »Ellie wollte einfach nicht aufhören wegen gestern Abend. Fast hätte ich aus dem Badezimmerfenster krabbeln müssen, um hierherzukommen.«
»Ist schon in Ordnung. Ich hatte mir nur schon etwas Sorgen gemacht.«
»Apropos: Hast du heute zufällig irgendwelche religiösen Fanatiker getroffen?«
Sebastian legte ihr den Arm um die Schultern und sie schlenderten auf dem Anlegesteg zurück in Richtung Lil’s Bastard. »Hier stelle ich heute die Fragen, nicht du.«
»Freut mich, dass du unser Gespräch noch nicht vergessen hast«, sagte Reed. »Ich bin beeindruckt.«
»Sagen wir einfach, ich kann es nicht ausstehen, wenn ich falschliege.« Sie gingen weiter und stellten fest, dass ihre Schrittlängen gut zueinander passten. »Ich habe mich entschlossen, nicht ins Hafenviertel zu gehen, wenn du nichts dagegen hast.
Da wird man nur erkannt und so, und ich möchte nicht, dass das unseren Abend ruiniert.«
»Dann gibt es also wieder Truthahn-Sandwichs?«
Sebastian lachte. »Nein, ich habe im Feinkostladen, wo wir uns gestern Lunch geholt haben, Pasta besorgt. Käsetortellini mit Pesto, dazu reichlich Parmesan, und ich habe sogar ein paar Zitronen gekauft.«
»Meine Lieblingspasta!« Sie drehte sich zu ihm um und kniff die Augen zusammen. »Woher weißt du ...?«
Sebastian grinste sie an. »Ist auch meine Lieblingspasta. Sieht ganz danach aus, als hätten wir tatsächlich etwas gemeinsam.« Sie waren am Boot angekommen. Sebastian sprang über die Reling und streckte Reed seine Hand entgegen. »Aufpassen.«
Reed fasste seine Hand und trat behutsam an Deck, wäre aber trotzdem beinahe gestürzt, als das Boot plötzlich unter ihrem vereinten Gewicht Schlagseite bekam.
Sebastian packte sie lachend an den Armen.
»Ich bin normalerweise nicht so ungeschickt. Das liegt nur an den blöden Pumps, die ich mir heute auf Ellies Drängen hin gekauft habe.«
Er führte sie zu der weißen mit Vinyl beschichteten Sitzbank. »Setz dich lieber hin, solange ich in die Bucht hinausfahre. Es dämmert bald; wenn wir also wieder drüben vor Angel Island ankern wollen, müsste sich uns ein fantastischer Blick auf die Lichter der Stadt bieten.«
Reed stimmte zu, also machte Sebastian die Leinen los, ließ die Motoren an und
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