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Psychopathen

Psychopathen

Titel: Psychopathen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Dutton
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unschuldig.
Querdenken
    Wenn es Ihnen schwerfällt, sich in diesem ethischen Spiegelkabinett zurechtzufinden, ist das kein Grund zur Panik. Die gute Nachricht ist, dass Sie offensichtlich kein Psychopath sind. Tatsächlich brauchten die Geschworenen am 23. April 1842, zehn Tage nach Eröffnung des Prozesses, sechzehn Stunden, um ein Urteil zu fällen – fast so lange wie Holmes im Wasser verbracht hatte. Holmes mochte sich vielleicht schuldig gemacht haben – des Totschlags, nicht des Mordes –, doch unter solch extremem psychischem Druck, dass richtig und falsch moralisch nicht mehr zu unterscheiden gewesen seien. Der Richter verurteilte Holmes symbolisch zu sechs Monaten Haft. Und einer Geldstrafe von 20 Dollar. [14]
    Betrachten Sie demgegenüber folgenden Fall, von dem 2007 der ›Daily Telegraph‹ berichtete:
    Zwei Police Community Support Officer (PCSOs, Nachbarschaftspolizisten) unternahmen nichts, um einen Zehnjährigen vor dem Ertrinken zu bewahren, weil sie nicht dazu »ausgebildet« waren, wie in einer solchen Situation zu verfahren sei, erklärte heute ein hochrangiger Polizeibeamter. 52 Die [Polizisten] standen am Rand eines idyllischen Teiches in Wigan, als Jordon Lyon bei dem Versuch, seine achtjährige Stiefschwester zu retten, in Schwierigkeiten geriet. Zwei Fischer, beide in den Sechzigern, sprangen in den Teich und schafften es, das Mädchen zu retten, doch die Polizisten, die kurz danach eintrafen, unternahmen keinen Rettungsversuch, sondern beschlossen, bis zur Ankunft ausgebildeter Polizeibeamter zu warten. Bei der heutigen gerichtlichen Untersuchung der Todesursache verlangtendie verzweifelten Eltern des Jungen zu wissen, warum nicht mehr Anstrengungen zur Rettung ihres Sohnes unternommen worden seien. [Sein] Stiefvater sagte: »... Man muss nicht dazu ausgebildet worden sein, einem ertrinkenden Kind hinterherzuspringen.«
    Auf den ersten Blick haben dieser Fall und der des Gefreiten zur See Alexander Holmes wenig gemeinsam. De facto scheinen sie diametral unterschiedlich zu sein. Im einen geht es um einen außergewöhnlichen Widerwillen dagegen, Leben zu erhalten, im anderen um eine merkwürdige Ambivalenz gegenüber der Rettung von Leben. Wenn man genauer hinsieht, entdeckt man aber verblüffende Ähnlichkeiten. Bei beiden Szenarien besteht das Problem darin, dass Regeln gebrochen werden. In dem Fall Jordon Lyon waren die Polizisten durch einen Verhaltenskodex gelähmt: die alles beherrschende Forderung, sich der »Parteilinie« unterzuordnen. Man hatte sie dressiert. Man hatte es ihnen abtrainiert, den eigenen Instinkten zu folgen, und ihnen eingebläut, alles zu meiden, wofür sie
nicht
ausgebildet worden waren. Im Fall der »William-Brown«-Tragödie waren die »Regeln«, um die es ging, noch tiefer verankert, sie waren funktionaler und »ethisch hygienischer«. Und dennoch waren sie, so könnte man argumentieren – was einige auch vehement taten –, den Erfordernissen des Augenblicks nicht weniger abträglich. Die Seeleute saßen sozusagen im selben Boot wie die Polizisten. Konfrontiert mit der Frage von Leben und Tod mussten sie handeln, schnell, entschlossen, ohne Rücksicht auf die Folgen ihres Tuns. Einigen gelang dies besser als anderen.
    Diese beiden Geschichten sind eine Herausforderung für die existenziellen Komfortzonen. Hinter all ihrer Tragik ist aber auch ein ziemlich seltsames Paradox verborgen. Wenn es überhaupt evolutionäre Gewissheiten gibt, dann die Tatsache, dass Konformität von Natur aus in unserem Gehirn angelegt ist. Wenn ein Herdentier von einem Raubtier bedroht wird, was tut es dann? Es rückt näher an die Gruppe heran. Nimmt die individuelleSalienz, die Auffälligkeit, ab, hebt man sich nicht mehr von der Gruppe ab, dann erhöht sich die Überlebenschance. Dies trifft auf den Menschen genauso zu wie auf andere Spezies. Hinter unseren hochleistungsfähigen Gehirnen bilden sich alte darwinistische Kondensstreifen, die bis zu den brutalen, blutgetränkten Schlachtfeldern der Vorgeschichte zurückreichen. Der Sozialpsychologe Vladas Griskevicius, damals an der Arizona State University tätig, und seine Mitarbeiter stellten im Rahmen eines Experiments, welches das heutige Social Networking mit seinen frühesten biologischen Ursprüngen verknüpfte, Folgendes fest: 53 Wenn die Benutzer eines Internet-Chatrooms sich bedroht fühlen, neigen sie dazu, »fester zusammenhalten«. Ihre Ansichten nähern sich an und sie gehen eher mit den Haltungen und Meinungen

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